
gebracht und überall die fundamentale Entwickelungsfrage angeregt
hat, seitdem ist schon vielfach und von sehr verschiedenen
Seiten her auf die merkwürdige Uebereinstimmung hingewiesen
worden, welche zwischen der Entwickelung der verschiedenen
menschlichen Spr achen und derjenigen der organischen Ar t en
besteht. Dieser Vergleich ist vollkommen berechtigt und sehr
lehrreich. In der Tat gibt es wohl kaum eine treffendere Analogie,
wenn man sich über viele schwierige und dunkle Verhältnisse in
der Entwickelungsgeschichte der Species volle Klarheit verschaffen
will. Denn die letztere wird durch dieselben Naturgesetze beherrscht
und geleitet, wie der Entwickelungsgang der Sprachen.
Alle Sprachforscher, welche nur einigermaßen mit der Wissenschaft
fortgeschritten sind, nehmen jetzt übereinstimmend an, daß
al le menschl ichen Spr a chen sich langsam und allmählich
aus einfachsten Anfängen en twi c k e l t haben. Hingegen ist der
wunderliche, noch vor fünfzig Jahren von angesehenen Autoritäten
verteidigte Satz, daß die Sprache ein „göttliches Geschenk“ sei,
jetzt wohl ganz allgemein verlassen und wird höchstens noch von
Theologen und von solchen Leuten verteidigt, die überhaupt von
natürlicher Entwickelung keine Vorstellung haben. Angesichts
der glänzenden Resultate der vergleichenden Sprachforschung muß
man in der Tat sich die Augen mit beiden Händen zuhalten,
wenn man die natürliche Entwickelung der Sprache nicht sehen
will. Für den Naturforscher ist diese eigentlich selbstverständlich.
Denn die Spr a che i s t eine p h y s io lo g i s ch e Funkt ion
des menschlichen Organismus, welche sich gleichzeitig mit ihren
Organen, dem Kehlkopfe und der Zunge, und gleichzeitig mit den
Gehirnfunktionen entwi c k e l t hat. Wir werden es daher, auch
ganz natürlich finden, wenn wir in der Entwickelungsgeschichte
und in der Systematik der Sprachen ganz dieselben Verhältnisse
wieder antreffen, wie in der Entwickelungsgeschichte und Systematik
der organischen Arten oder Species. Die verschiedenen
kleineren und größeren Gruppen von Sprachformon, welche die.
vergleichende Sprachforschung als Ursprachen, Grundsprachen,
Muttersprachen, Tochtersprachen, Dialekte, Mundarten u. s. w.
unterscheidet, entsprechen in ihrer Entwickelungsweise vollständig
den verschiedenen kleineren und größeren Formenkategorien, welche
wir im zoologischen und botanischen Systeme als Stämme, Klassen,
Ordnungen, Familien, Gattungen, Arten, Spielarten des Tierreiches
und Pflanzenreiches klassifizieren. Das Verhältnis dieser verschiedenen,
teils neben-, teils übereinander geordneten Gruppenstufen
oder Kategorien des Systems ist in beiden Fällen ganz dasselbe;
aber auch die Entwickelung derselben erfolgt hier wie dort in
derselben Weise. Dieser lehrreiche Vergleich ist zuerst von
einem unserer bedeutendsten vergleichenden Sprachforscher näher
ausgeführt worden, von dem leider zu früh verstorbenen August
Schleicher, der gleichzeitig ein kenntnisreicher Botaniker war. In
seinen größeren Werken finden Sie die „vergleichende Anatomie
und Entwickelungsgeschichte der Sprachen“ ganz nach derselben
phylogenetischen Methode behandelt, nach welcher wir in der vergleichenden
Anatomie und Entwickelungsgeschichte der Tierformen
verfahren. Speziell durchgeführt hat er dieselbe an dem Stamme
der indogermanischen Sprachen, und in der kleinen Schrift über
„Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft“ durch einen
interessanten Stammbaum des indogermanischen Sprachstammes
erläutert (Weimar 1863, II. Aufl. 1873).
Wenn Sie mit Hülfe dieses Stammbaumes die Ausbildung der
verschiedenen Sprachzweige, welche aus der gemeinsamen Wurzel
der indogermanischen Ursprache sich entwickelt haben, verfolgen,
so werden Sie ein außerordentlich klares Bild von der Phylogenie
derselben erhalten. Sie werden sich zugleich überzeugen, wie diese
vielfach der Entwickelung der größeren und kleineren Gruppen
von Wirbeltieren analog ist, welche sich aus der gemeinsamen
Stammform des Urwirbeltieres entwickelt haben. Jene uralte indogermanische
Wurzelsprache hat sich zunächst in zwei Hauptstämme
gesondert: einen slavogermanischen und einen arioroma-
nischen Hauptstamm oder Urstamm. Der slavogermanische Ur-
stamm gabelte sich dann wieder in eine germanische Ursprache
und eine slavo-lettische Ursprache. Ebenso spaltete sich der ario-
romanische Urstamm in eine arische Ursprache und eine gräko-
romanische Ursprache (S. 515). Verfolgen wir den Stammbaum
dieser vier indogermanischen Ursprachen, noch weiter, so finden
wir, daß sich unsere uralte germanische Ursprache in drei Hauptzweige
teilte, in eine skandinavische, eine gotische' und eine
deutsche Grundsprache. Aus der deutschen Grundsprache ging
einerseits das Hochdeutsche, andererseits das Niederdeutsche hervor,
zu welch letzterem die verschiedenen friesischen, sächsischen und
plattdeutschen Mundarten gehören. In ähnlicher Weise entwickelte
sich die slavo-lettische Ursprache, die sich zunächst in eine baltische
und in eine slavische Grundsprache teilte. Aus der baltischen
Grundsprache gingen die lettischen, litauischen und-altpreußischen
Mundarten hervor. Aus der slavischen Grundsprache hingegen
H a e c k e l, Anthropogenie. 5. Aufl. ^3