
22. Zweiundzwanzigste Stufe: Das Leben der Menschen.
D e r Anthropoiden-Orgamsmas der Menschenaffen geht gegen E n d e
d e r T e r t i ä r z e i t (?) i n d i e B ildu n g der niedersten U r m e n s c h e n über
(Homo primigenius, II. neander, ähnlich dem H. veddalis, H. australis etc.);
die A r t dieses allmählichen Ueberganges erschließt der fossile Pithecanthropus
erectus v o n Java (Fig. 338, S. 677). E r s t nachdem die Gewoh n heit
des aufrechten Ganges u nd der Gebrauch der Greifhand vollständig
geworden war, entwickelte sich aus der rohen L a u t s p r a c h e sozialer
Menschenaffen die artikulierte Wortsprache des Menschen. A b e r erst
die K u l t u r e n t w i c k e l u n g des letzteren bewirkte allmählich jene
höhere A u sb ild u n g des Ge hirn s u nd seiner Seelentätigkeit, welche den
Nultur-Memchen s o . hoch über den ZfarAzp-Menschen u nd diesen über
den Natur-M ensch en erhebt. W ie der letztere seine sämtlichen Organe
von den Affenmenschen durch V e r e r b u n g erhalten hat, so auch
deren p h y s i o l o g i s c h e F u n k t i o n e n .
Note zu den Genetischen Tabellen.
Die sechzig Genetischen Tabellen, welche den dreißig Vorträgen über Anthro-
pogenie angehängt worden sind, sollen die wichtigsten Lehrsätze ihres Inhaltes dem
Leser in knappster Form übersichtlich im Zusammenhang vorführen. Bei der verwickelten
und spröden Natur des umfangreichen wissenschaftlichen Stoffes erleichtert
eine solche tabellarische Uebersicht das Verständnis sehr wesentlich. In der Natur der
Sache liegt es, daß im einzelnen dabei die p h y lo g e n e t i s c h e H y p o th e s e eine
große Rolle spielt. Denn die drei großen empirischen Urkunden unserer Stammesgeschichte:
Paläontologie, vergleichende Anatomie und Keimesgeschichte, liegen uns
meistens nur unvollständig vor. Wir sind daher gezwungen, unbeirrt von der ängstlichen
Hypothesenfurcht der modernen „exakten Schule“ , die historischen Lücken durch
„provisorische Annahmen“ auszufüllen; wenn diese später durch bessere ersetzt werden,
verlieren sie dadurch nichts an ihrem heuristischen Werte. Für die einzelnen G ru p p en
d e s p h y le t i s c h e n S y s tem s (Klassen, Ordnungen, Familien u. s. w.), welche als
S tu f e n u n s e r e r A h n e n r e ih e aufgeführt sind, ist stets im Auge zu behalten, daß
dieselben nicht nur die heute lebenden modernen Vertreter derselben umfassen,
sondern auch die zahlreicheren ausgestorbenen Verwandten, die uns nur teilweise
bekannt sind. Dabei ist es für den B e g r i f f d e r G ru p p en höchst wichtig, nur
die wesentlichen und charakteristischen Merkmale in ihre Definition aufzunehmen,
von allen unwesentlichen und zufälligen Eigenschaften einzelner Glieder der Gruppe
abzusehen. Den eisten vollständigen Versuch, das „Natürliche System der Organismen“
in diesem Sinne auf phylogenetischer Basis zu reformieren, enthält meine „ S y s t e m
a t is c h e P h y lo g e n ie “ (3 Bände, Berlin 1894— 96).
Noten, Anmerkungen und
Literaturnachweise.
1. (S. 1.) A t t . th rO 'p ’o g e n i i ( S (griechisch) = E n t w i c k e l u n g s -
g e s r f i i c h t e d e s M e n s c h e n ; v o n Anthropos (uv&Qwnog) = Mensch,
u nd , Genen (ysved) — Entwickelungsgeschichte. E in eigentliches griechisches
W o r t für „Entwickelungsgeschichte“ gibt es nicht; man gebraucht
statt dessen entweder ysved ( = A b stam m u n g , Abkunft) oder yoveict
(— Zeugung). W e n n man Goneiä dem Genea vorzieht, so muß man •
Anthropogonie schreiben. D a s von Josephus zuerst gebrauchte W o r t „Anthro-
■ pogonie“ bedeutet jedoch n u r „Menschenerzeugung“. .Genesis (ysveeig)
bedeutet: „Entstehung, Entwickelung“ ; daher Anthropogenesis = „ E n t wickelung
des Menschen*'.
2 . (S:-2.) E m b r y o (griechisch)
K e i m (fyßQvov). Eigentlich
d. h. „die ungeborene Frucht im
richtiger fetus). D iesem ursprüng-
„ ro kvToq xl\g yuozooc ßovov'k' (Pust.),
Mutterleibe“ (bei den R öm e rn foetus, -------D— ./- / - -
liehen. Sinne gemäß sollte man den A u sd ru ck Embryo stets n u r auf denjenigen
jugendlichen Organismus anwenden, der n och „ von .d e r Eih ü lle
umschlossen ist“. (Vergl. meine Generelle Morphologie, Bd. I I , S. 20.)
Mißbräuchlich werden aber häufig auch verschiedene, frei bewegliche
Tueendzustände von niederen Tieren (L a rve n u. s. w.) als „ Em b ryo ne n “
3 . (S. 3.) E m b r y o l o g i e (griechisch) = K e i m l e h r e , v o n
Embryon (sfißgvov) = Keim, u nd Logos (lo'yoc) = Lehre. Seh r häufig
wird n och heute die gesamte „Entwickelungsgeschichte des In d iv id u um s“
fälschlich als „Embryologie“ bezeichnet. D e n n entsprechend dem Begriffe
Embryo (Note 2) sollte man unter Embryologie oder Embryogeme n ur die
„Entwickelungsgeschichte des In d iv id u um s i n n e r h a l b d e r E i h ü l l e n
verstehen. Sobald der Organismus dieselben verlassen hat, ist er nicht
mehr eigentlicher „ E m b r y o “. D ie späteren Veränderungen desselben
s in d Gegenstand der M e t a m o r p h o s e n l e h r e oder Metamorphologie.
4 . (S. 4.) O n t o g e n i e (griechisch) = K e i m e s g e s c h i c h t . e oder
„Individuelle Entwickelungsgeschichte“ ; v o n Onta (ovra) = Individuen,
u nd Genea (yevsd) = Entwickelungsgeschichte. (Vergl. Note_ 1.) D ie
Ontogenie als die gesamte „Entwickelungsgeschichte des In d iv id u um s“
umfaßt sowohl die E m b r y o l o g i e als die M e t a m o r p h o l o g i e
(Note 3). Gener. Morphol., Bd. I I , S. 30.