
der Keimesgeschichte nur sehr wenig Sicheres über die Stammesgeschichte
derselben erfahren. Hier muß uns dann die vergleichende
Anatomie zu Hülfe kommen, die oft viel wichtigere
und zuverlässigere Aufschlüsse über die Phylogenie erteilt, als die
Ontogenie vermag. Sie ersehen daraus, wie wichtig es für die
richtige und kritische Anwendung des Biogenetischen Grundgesetzes
ist, stets beide Sei ten desselben im Auge zu behalten. Die
erste Hälfte dieses fundamentalen Entwickelungsgesetzes öffnet
uns die Bahn der Phylogenie, indem sie uns lehrt, aus dem Gange
der Keimesgeschichte denjenigen der Stammesgeschichte annähernd
zu erkennen: die Ke imfo rm wiede rho l t durch V e r e
rbung die ent spr e chende Stammform (Palingenesis).
Die andere Hälfte desselben schränkt aber diesen leitenden Grundsatz
ein und macht uns auf die Vorsicht aufmerksam, mit welcher
wir denselben an wenden müssen; sie zeigt uns, daß die ursprüngliche
Wiederholung der Phylogenese durch die Ontogenese im
Laufe vieler Millionen Jahre vielfach abgeändert, gestört und
abgekürzt worden ist: die Ke imfo rm hat sich durch An-,
pa s sung von der ent spre chenden Stammform ent fe
rnt (Cenogenesis). Je weiter diese Entfernung gegangen ist,
desto mehr sind wir genötigt, für die Erforschung der Phylogenie
die Hülfe der vergleichenden Anatomie in Anspruch zu nehmen.
Bei keinem Organsystem des menschlichen Körpers ist dies
vielleicht in höherem Maße der Fall als bei demjenigen, auf dessen
schwierige Entwickelungsgeschichte wir jetzt zunächst einen Bück
werfen wollen: beim Ge fäßs y s tem oder „Zirkulationsapparat“
(Vasorium). Wenn man allein aus denjenigen Erscheinungen,
welche uns die individuelle Entwickelung dieses Organsystems
beim Embryo des Menschen und anderer höherer Wirbeltiere darbietet,
auf die ursprünglichen Bildungsverhältnisse bei unseren
älteren tierischen Vorfahren schließen wollte, so würde man zu
gänzlich verfehlten Anschauungen gelangen. Durch eine Menge
von einflußreichen embryonalen Anpassungen, unter denen die
Ausbildung eines umfangreichen Nahrungsdot te rs als wichtigste
betrachtet werden muß, ist der ursprüngliche Entwickelungsgang
des Gefäßsystems bei den höheren Wirbeltieren teilweise dergestalt
abgeändert, gefälscht und abgekürzt worden, daß von vielen der
wichtigsten phylogenetischen Verhältnisse hier wenig oder nichts
mehr in der Keimesgeschichte erhalten ist Wir würden vor der Erklärung
der letzteren hülflos und ratlos dastehen, wenn uns nicht die
v e r g l e i ch end e Ana tomie und Ontog enie zu Hülfe kämen.
D a s Ge fäß s y s t em (Vasorium) stellt beim Menschen, wie
bei allen Schädeltieren, einen verwickelten Apparat von Hohlräumen
dar, die mit Säften oder zellenhaltigen Flüssigkeiten erfüllt
sind. Diese „Gefäße“ oder Ad e rn (Vascula) spielen eine
wichtige Rolle bei der Ernährung des Körpers. Teils führen sie
die ernährende rote Blutflüssigkeit in den verschiedenen Körperteilen
umher (Blutgefäße); teils nehmen sie den weißen, durch
die Verdanung gewonnenen Milchsaft (Chylus) aus der Darmwand
auf (Chylusgefäße); teils sammeln sie die verbrauchten Säfte
und führen sie aus den Geweben fort (Lymphgefäße). Mit
diesen letzteren stehen [auch die großen „serösen Höhlen“ des
Körpers in Zusammenhang, vor allen die Leibeshöhle oder das
Coelom. Die Lymphgefäße führen sowohl die farblose Lymphe
als den weißen Chylus in den venösen Teil der Blutbahn hinüber.
Als Bildungsstätten neuer Blutzellen arbeiten dieLymphdrüsen,
zu denen auch die Milz gehört. Als Bewegungszentrum für den
regelmäßigen Umlauf der Säfte fungiert das Herz,, ein starker
Muskelschlauch, der sich regelmäßig pulsierend zusammenzieht
und gleich einem Pumpwerk mit Klappenventilen .ausgestattet
ist. Durch diesen beständigen und regelmäßigen Kreislauf des
Blutes wird -allein der komplizierte Stoffwechsel der höheren Tiere
ermöglicht.
So'groß nun auch die Bedeutung des Gefäßsystems für den
höher entwickelten, voluminösen und stark differenzierten Tierkörper
ist, so stellt dasselbe doch keineswegs einen so unentbehrlichen
Apparat für das Tierleben dar, wie gewöhnlich angenommen
wird. Die ältere Medizin betrachtete das Blut als die eigentliche
Lebensquelle, und die „Humoralpathologie“ leitete die meisten
Krankheiten von „verdorbener Blutmischung“ ab. Ebenso spielt
in den heute noch herrschenden dunklen Vorstellungen von der
Ve r e rb u n g das Blut die erste Rolle. Wie man allgemein von
Vollblut, Halbblut u. s. w. spricht, so ist auch die Meinung allgemein
verbreitet, daß die erbliche Uebertragung bestimmter
morphologischer und physiologischer Eigentümlichkeiten'von den
Eltern auf die Kinder „im Blut e l ie g t “. Daß diese üblichen
Vorstellungen vollkommen falsch sind, können Sie schon daraus
ermessen, daß weder bei dem Zeugungsakte das Blut der Eltern
auf den erzeugten Keim unmittelbar übertragen wird, noch auch
der Embryo frühzeitig in den Besitz des Blutes gelangt. Sie wissen
bereits, daß nicht allein die Sonderung der vier sekundären Keimblätter,
sondern auch die Anlage der wichtigsten Organe beim