
letztere, die ontogenetische Verwandlung, die sich vor unseren
Augen vollzieht, muß in demselben Maße wunderbarer als die
phylogenetische erscheinen, in welchem die Zeitdauer der Stammesgeschichte
diejenige der Keimesgeschichte ühertrifft. Denn der
menschliche Embryo muß den ganzen individuellen Entwickelungsprozeß
von der einfachen Zelle bis zum vielzelligen ausgebildeten
Menschen mit allen seinen Organen in der kurzen Zeitspanne von
40 Wochen durchlaufen." Hingegen stehen uns für den gleichen
phylogenetischen Entwickelungsprozeß, für die Entwickelung der
Vorfahren des Menschengeschlechts von der einfachsten einzelligen
Stammform an, Millionen von Jahren zur Verfügung.
Was nun diese phylogenetischen Zeiträume selbst betrifft, so
ist es unmöglich, die wirkliche Länge derselben nach Jahrhunderten
oder auch nur nach Jahrtausenden annähernd zu bestimmen und
absolute Zahlenmaße dafür festzustellen. Wohl aber sind wir schon
spit langer Zeit durch die Untersuchungen der - Geologen in stand
gesetzt, die r e l a t iv e Länge der verschiedenen einzelnen Zeitabschnitte
der organischen Erdgeschichte abzuschätzen und zu vergleichen.
Den unmittelbaren Maßstab für diese relative Maßbestimmung
der geologischen Zeiträume liefert uns die Dicke der
sogenannten neptunischen Erdschichten oder der „sedimentären
Gebirgsformationen“, d. h. aller derjenigen Erdschichten, welche
sich auf dem Boden des Meeres und der süßen Gewässer aus deri
dort abgesetzten Schlammniederschlägen gebildet haben. Diese in
Form von Kalkstein, Tonlagen, Mergel, Sandstein, Schiefer u. s. w.
übereinander geschichteten Sedimentgesteine, welche die Hauptmasse
der Gebirge zusammensetzen und oft viele Tausend Fuß
Dicke erreichen, geben uns den Maßstab für die Abschätzung der
relativen Länge der verschiedenen Erdbildungsperioden.
Dér Vollständigkeit halber muß ich hier ein paar Worte über
den Entwickelungsgang der Erde im allgemeinen einschalten und
die wichtigsten dabei zu berücksichtigenden Verhältnisse kurz
hervorheben. Zuerst stoßen wir hier auf den Hauptsatz, daß auf
unserem Erdkörper das o r g ani s che Leben zu einer b e s
t immte n Zei t seinen A n f a n g hatte. Das ist ein Satz,
welcher von keinem urteilsfähigen Geologen und Biologen mehr bestritten
wird. Wir wissen jetzt sicher, daß das organische Leben
auf unserem Planeten wirklich einmal neu entstanden ist und nicht,
wie einige behauptet haben, von Ewigkeit her existierte. Die unwiderleglichen
Beweise dafür liefert einerseits dié physikalisch-astronomische
Kosmogenie, anderseits, die Ontogenie der Organismen.
Ebensowenig als die Individuen, ebensowenig erfreuen sich die
Arten und Stämme der Organismen eines ewigen Lebens. Auch
sie hatten einen endlichen Anfang82), Alles Individuelle oder
„Persönliche“ in der Welt ist eine vorübergehende Erscheinungsform.
Den Zeitraum, welcher seit der Entstehung des ersten
Lebens auf der Erde bis zur Gegenwart verflossen ist, und der
uns hier allein interessiert, nennen wir kurz „die organi s che
Erd g e s chi cht e “, im Gegensatz zu jener „anorganischen Erdgeschichte“,
die vor der Entstehung des ersten organischen Lebens
abgelaufen ist. Ueber die letztere sind wir zuerst durch die naturphilosophischen
Untersuchungen und Berechnungen unseres großen
kritischen Philosophen Immanuel Kant aufgeklärt worden, welche
später Laplace mathematisch begründet hat. Eine ausführliche
Darstellung derselben findet sich in Kants „Allgemeiner Naturgeschichte
nnd Theorie des Himmels“, sowie in dem ausgezeichneten
Werke von Carus Sterne \ „Werden und Vergehen“.
Die organische Erdgeschichte konnte erst dann beginnen, als
tropfbar-flüssiges Wasser auf der Erde existierte. Denn jeder
Organismus ohne Ausnahme bedarf zu seiner Existenz des tropfbarflüssigen
Wassers und enthält in seinem Körper eine beträchtliche
Quantität desselben. Unser eigener Körper enthält im ausgebildeten
Zustande 60—70 Prozent Wasser in den Geweben und
nur 30—40 Prozent feste Substanz. Noch größer ist der Wassergehalt
des Körpers beim Kinde, und am größten beim Embryo.
Auf frühen Stufen der Entwickelung enthält dör menschliche
Embryo über' 90 Prozent Wasser und nicht einmal 10 Prozent feste
Bestandteile. Bei niederen Seetieren, namentlich bei gewissen
Medusen, besteht der Körper sogar aus mehr als 99 Prozent Seewasser
und enthält noch nicht ein einziges Prozent feste Substanz.
Kein Organismus kann ohne Wasser existieren und seine Lebensfunktionen
vollziehen. Ohne Wasser kein Leben!
Das tropfbar-flüssige Wasser, von dem somit die Existenz des
Lebens in erster Linie abhängt, konnte aber auf unserer Erde erst
entstehen, nachdem die Temperatur des glühenden Erdballs an der
Oberfläche bis zu einem gewissen Grade gesunken war. Vorher
existierte dasselbe nur in Dampfform. Sobald aber aus der Dampfhülle
sich das erste tropfbare Wasser durch Abkühlung niedergeschlagen
hatte, begann dasselbe seine geologische Wirksamkeit
und hat seitdem bis zur Gegenwart in fortwährendem Wechsel an
der Umgestaltung der festen Erdrinde gearbeitet. Das Resultat
dieser unaufhörlichen Arbeit des Wassers, das in Form von Regfen