
„War das Ei früher da oder das Huhn“ ? Wir können jetzt dieses
Sphinxrätsel, mit welchem unsere Gegner oft die Entwickelungstheorie
in die Enge treiben wollen, ganz einfach dahin beantworten 1
D a s E i w a r vie l f rüher da als das Huhn. Freilich war
aber das Ei ursprünglich nicht als V o g e l -E i da, sondern als indifferente
amoeboide Zelle von einfachster Form. Das Ei lebte
Jahrtausende lang selbständig als einfachster einzelliger Organismus,
als Amoebe. Erst nachdem die Nachkommenschaft dieser einzelligen
Urtiere sich zu vielzelligen Tierformen entwickelt, und nachdem
diese sich geschlechtlich differenziert hatten, erst dann entstand
aus der amoeboiden Zelle das Ei in dem heutigen physiologischen
Sinne des Wortes. Auch dann war das Ei zuerst Gastraea-Ei,
dann Platoden-Ei, darauf Vermalien-Ei und Chordonier-Ei; später
Acranier-Ei, dann Fisch-Ei, Amphibien-Ei, Reptilien-Ei und zuletzt
erst Vogel-Ei. D a s heu t ig e V o g e l -E i also, wie es unser e
Hühner uns t ä g l i ch l eg en, i s t ein höchs t k omp l i z
ie r te s hi s tor i s che s Produkt , das Re su l t a t zahl lo ser
Ve r e rb un g sp ro z e s s e , we l che sic h im Lauf e , vie le r
Mi l l ionen Jahre abg e sp ie l t haben?8).
Als eine besonders wichtige Erscheinung ist schon früher der
Umstand hervorgehoben worden, daß die ursprüngliche Eiform,
wie sie sich zuerst im Eierstock der verschiedenen Tiere zeigt,
überall dieselbe ist, eine indifferente Zelle von einfachster amoeboider
Beschaffenheit, von unbestimmter und veränderlicher'Gestalt. Man
ist nicht im stände, in diesem ersten, frühesten Jugendzustande,
unmittelbar nachdem die individuelle Eizelle durch Teilung mütterlicher
Eierstockszellen entstanden ist, irgend welche wesentlichen
Formunterschiede derselben bei den verschiedensten Tieren wahrzunehmen
(vergl. Fig. 13, S. 124). Erst später, nachdem die
ursprünglichen Eizellen oder die Ur e i e r (Protova). verschiedenartigen
Nahrungsdotter aufgenommen, sich mit mannigfach gebildeten
Hüllen umgeben und anderweitig differenziert haben,
erst wenn sie dergestalt sich in Nache ie r (Metova) verwandelt
haben, kann man sie häufig bei den verschiedenen Tierklassen
unterscheiden. Diese Eigentümlichkeiten der ausgebildeten Nacheier
oder der reifen und befruchtungsfähigen Eier sind aber
natürlich erst sekundäre Erwerbungen, durch Anpassung an die
verschiedenen Existenzbedingungen' des Eies selbst und des
eibildenden Tieres entstanden.
Wenn wir die Amoeben als die einfachsten und ältesten von
allen e inz e l l ig en Protozoen (oder von allen plasmophagen
Protisten) betrachten, so können wir die wichtige Frage nach
ihren! Ursprünge in doppelter Weise beantworten. Entweder wir
nehmen an, daß die primitivsten Amoeben aus kernlosen Prot-
amoeben durch Sonderung von innerem Zellkern und äußerem
Zellenleib entstanden sind, oder wir leiten dieselben durch Met a -
s i t i smus (S. 540) von einfachsten e inz e l l ig en Protophy ten
ab, d. h. von kernhaltigen plasmodomen Protisten. Solche alte
Urpflänzchen primitivster Art sind z. B. die Paulotomeen, die
grünen Palmellaceen und die gelben Xanthellaceen; bald leben dieselben
einzeln (Eremosphaera, Pleurococcus), bald gesellig, indem
die durch Teilung entstandenen Tochterzellen in gemeinsam ausgeschiedenen
Gallertmassen vereinigt bleiben {Palmelia, Pleurococcus).
Fig. 282.
Fig. 282. Ursprüngliche oder primordiale Eifurchung.
Die Stammzelle oder Cytula, welche durch
Befruchtung aus der Eizelle entstanden ist, zerfällt durch
wiederholte regelmäßige Teilung zuerst in zwei Zellen (A),
dann in vier Zellen (B ), hierauf in acht Zellen (C) und
endlich in sehr zahlreiche Furchungszellen (Z>).
Fig. 283. Maulbeerkeim oder Morula.
Auch die ältesten Formen dieser kernhaltigen,
also wirklich einzelligen Urpflanzen sind sicher
Fig. 283.
ursprünglich aus kernlosen Phytomoneren (Chromaceen) durch
Sonderung von innerem Nucleus und äußerem Cytosoma entstanden
— oder chemisch ausgedrückt: durch Scheidung von zentralem
Karyoplasma und peripherem Cytoplasma.
Eine nähere Bestimmung der einzelligen Lebensformen, die
wir demnach einerseits als die ältesten (plasmodomen) P r o t o phyten,
andererseits als die ältesten (plasmophagen) Pro tozoen
hypothetisch betrachten können, ist zur Zeit nicht möglich; sie ist
auch nicht von Bedeutung, da es sich für uns nur um eine allgemeine
Vorstellung von der primitiven Beschaffenheit der ältesten
Träger des organischen Lebens auf unserem Erdball handeln kann.