
Inhalt des neunundzwanzigsten Vortrages.
Fortpflanzung und Wachstum. Ungeschlechtliche Fortpflanzung: Teilung und
Knospenbildung. Geschlechtliche Fortpflanzung: Verwachsung von zwei erotischen
Zellen: Spermazelle und Eizelle. Befruchtung. Urquelle der Liebe: erotischer Chemotropismus.
Ursprüngliche Zwitterbildung (Hermaphroditismus); spätere Geschlechtstrennung
(Gonochorismus). Entstehung der Gonidien aus den Keimblättern (Coelom-
epithel). Urgeschlechtszellen (Progonidien). Hermaphroditische und gonochoristische
Zellen. Segmentale Gonaden der niederen Wirbeltiere; sekundäre Verschmelzung derselben.
Eierstöcke (Ovaria) und Hoden (Spermaria). Ausführgänge oder Geschlechtsleiter:
Eileiter und Samenleiter. Entstehung derselben aus den Umierengängen. Nierensystem
der Wirbeltiere; drei Generationen: Vomiere, Umiere und Nachniere. • Longitudinaler
Umierengang (Nephroductus) Tind transversale Segmentalkanäle (Nephridien). Vomieren
des Amphioxus. Umieren der Myxinoiden. Umieren der Schädeltiere.' Dauernieren
der Amnioten. Entstehung der Harnblasè aus der Allantois. Differenzierung der Ur-
nierengänge. Müllerscher Gang (Eileiter) und Wolffscher Gang (Samenleiter). Wanderung
der Keimdrüsen bei den Säugetieren. Eibildung bei den Säugetieren (Graafsche
Follikel). Entstehung der äußeren Geschlechtsorgane. Phallus oder Geschlechtshöcker.
Männliche und weibliche Begattungsorgane (Copulätiva): Penis und Clitoris. Kloakenbildung.
Hamgeschlechtskanal. Zwitterbildung beim Menschen.
Literatur:
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Meine Herren!
W e n n wir die Bedeutung der Organsysteme des Tierkörpers
nach der mannigfaltigen Fülle verschiedenartiger Erscheinungen
und nach dem daran sich knüpfenden physiologischen Interesse
beurteilen, so werden wir als eines der wichtigsten und intei-
essantesten Organsysteme dasjenige anerkennen müssen, zu dessen
Entwickelungsgeschichte wir uns jetzt zuletzt wenden: das
Sy s tem de r Fo r tpf lanzung so r g ane . Wie die Ernährung
für die Selbsterhaltung des organischen Individuums die erste und
wichtigste Vorbedingung ist, so wird durch die Fortpflanzung allein
die Erhaltung der organischen Art oder Spe c ie s bewirkt; oder
vielmehr die Erhaltung der langen Generationenreihe, welche in
ihrem genealogischen Zusammenhänge die Gesamtheit des organischen
Stammes, das Phy lon darstellt. Kein organisches Individuum
erfreut sich eines „ewigen Lebens“. Jedem ist nur eine
kurze Spanne Zeit zu seiner individuellen Entwickelung gegönnt,
ein verschwindend kurzer Moment in der Millionenreihe von Jahren
der Erdgeschichte.
Die F o r tp f l a n z u n g und die damit verbundene V e r e
rbung wird daher neben der Ernährung schon lange als die
wichtigste Fundamentalfunktion der Organismen angesehen, und
man pflegt danach diese „belebten Naturkörper“ vorzugsweise von
den „leblosen oder organischen Körpern“ zu unterscheiden. Doch
ist eigentlich diese Scheidung nicht so tief und durchgreifend, als
es zunächst den Anschein hat und als man gewöhnlich annimmt.
Denn wenn man die Natur der Fortpflanzungsphänomene näher
ins Auge faßt, so zeigt sich bald, daß dieselben sich auf eine allgemeine
Eigenschaft zurückführen lassen, die ebenso den anorganischen
wie den organischen Körpern zukommt, auf das
Wachstum. Die Fortpflanzung ist eine Ernährung und ein
Wachstum des Organismus über das individuelle Maß hinaus,
welche einen Teil desselben zum Ganzen erhebt. Das zeigt sich