
physiologische Bedeutung verloren haben. Durch neu erworbene
Anpassungen sind sie nutzlos geworden, werden aber trotzdem
durch die Vererbung von Generation auf Generation übertragen
und dabei nur langsam rückgebildet.
Wie diese „rudimentären Organe“, so haben wir auch alle
anderen Organe unseres Körpers von den Säugetieren, und zwar
zunächst von unseren Affenahnen geerbt. D e r menschl i che
Kö r p e r enthäl t ni cht ein e inz ig e s Organ, we l che s
ni cht von den’Af f e n g e e rb t ist. Wir können aber auch
mittelst unseres Biogenetischen Grundgesetzes den Ursprung unserer
verschiedenen Organsysteme noch weiter, bis zu niederen Ahnenstufen
hinab verfolgen. So können wir z. B. sagen, daß wir die
ältesten Organe unseres Körpers, äußere Oberhaut und innere Darmhaut,
von den Gastraeaden geerbt haben; hingegen.Nervensystem
und Muskelsystem von den Platoden, das Gefäßsystem, die Leibeshöhle
und das Blut von den Vermalien, die Chorda und den Kiemendarm
von den Prochordoniern; die Metamerie oder Gliederung
unseres Körpers von den Acraniern; den Urschädel und die höheren
Sinnesorgane von den Cyclostomen, die Gliedmaßen und Kiefer
von den Urfischen, den fünfzehigen Fuß von den Amphibien, die
Gaumenplatte von den Reptilien, das Haarkleid, die Milchdrüse
und die äußeren Geschlechtsorgane von den Uvsäugetienen. Als
wir das „Gesetz des ontogenetischen Zusammenhanges der systematisch
verwandten Formen“ aufstellten und das relative Alter der
Organe'bestimmten, haben wir gesehen, wie wir derartige phylogenetische
Schlüsse aus der ontogenetischen Succession der Organsysteme
ziehen können.
Mit Hülfe dieses wichtigen Gesetzes und mit Hülfe der .vergleichenden
Anatomie waren wir ferner im stände, die „Stellung
des Menschen in der Natur“ genau zu bestimmen, oder wie wir
auch sagen können, dem Menschen seinen Platz im System des
Tierreichs anzuweisen. Man pflegt jetzt in den neueren zoologischen,
Systemen das ganze Tierreich in die bekannten zwölf Stämme oder
Phylen einzuteilen, und diese verteilt man in runder Summe
wieder auf ungefähr sechzig Klassen, diese Klassen auf mindestens
dreihundert Ordnungen. Seiner ganzen Organisation nach ist der
Mensch unzweifelhaft erstens ein Glied nur eines einzigen Stammes,
des Wirbeltierstammes; zweitens ein Glied nur einer einzigen Klasse,
der Säugetierklasse; und drittens ein Glied nur einer einzigen Ordnung,
der Primatenordnung. Alle die charakteristischen Eigentümlichkeiten,
durch welche sich die Wirbeltiere von den übrigen
elf Tierstämmen, die Säugetiere von den übrigen sechzig Klassen,
und die Primaten von den übrigen dreihundert Ordnungen des
Tierreichs unterscheiden, alle diese Eigentümlichkeiten besitzt auch
der Mensch. Mögen, wir uns drehen und wenden, wie wir wollen,
so kommen wir über diese anatomische und systematische Tatsache
nicht hinweg. Sie wissen, daß in neuester Zeit gerade diese Tatsache
zu den lebhaftesten Erörterungen geführt und namentlich
viele Streitigkeiten über die spezielle anatomische Verwandtschaft
des Menschen mit den Affen herbeigeführt hat. Die wunderlichsten
Ansichten sind über diese „A f f e n f r a g e oder }>Pithecoiden-
Theorie“ zu Tage gefördert worden. Es wird daher gut sein, wenn
wir dieselbe hier nochmals scharf beleuchten und das Wesentliche
derselben vom Unwesentlichen trennen. (Vergl. oben S. 677 679.)
Wir gehen dabei von der unbestrittenen Tatsache aus, daß
der Mensch auf alle Fälle, mag man seine spezielle Blutsverwandtschalt
mit den Affen leugnen oder annehmen, ein echtes Säugetier,
und zwar ein pla c entale s S äu g e t i e r ist. Diese fundamentale
Tatsache ist in jedem Augenblicke so leicht durch die vergleichendanatomische
Untersuchung zu beweisen, daß sie seit der Trennung
der Placentaltiere von den niederen Säugetieren (Beuteltieren und
Gabeltieren) einstimmig anerkannt worden ist. Für jeden konsequenten
Anhänger der Entwickelungslehre folgt daraus aber ohne
weiteres, daß der Mensch mit den anderen Placentaltieren zusammen
von einer und derselben gemeinsamen Stammform, von
dem Stammvater der Placentalien abstammt, wie wir auch weiter
für a l le verschiedenen Säugetiere einen gemeinsamen mesozoischen
Stammvater no twend ig annehmen müssen. Damit ist aber die
große, weltbewegende Prinzipienfrage von der Stellung des Menschen
in der Natur endgültig entschieden, mag man dem Menschen
nun eine nähere oder eine entferntere Verwandtschaft mit den
Affen zuschreiben. Gleichviel, ob der Mensch in phylogenetischem
Sinne ein Mitglied der Affenordnung (— oder wenn Sie lieber
wollen: der Primaten-Ordnung ||),>ist, oder nicht, auf jeden.
Fall bleibt seine unmittelbare Blutsverwandtschaft mit den übrigen
S äu g e t i e r e n und insbesondere mit den Placentaltieren bestehen.
Vielleicht sind die Verwandtschaftsbeziehungen der verschiedenen
Säugetierordnungen zueinander vielfach andere, als wir gegenwärtig
hypothetisch arinehmen. Auf jeden Fall aber bleibt die
g emeinsame Ab s t ammu ng des Mens chen und al l e r
übr ig en Säug e t ie r e von einer gemeinsamen Stammf
o rm u n b e s t r e i t b a r . Dieses uralte längst ausgestorbene
H a e ck e l, Anthropogenie. 5. Aufl. 59