
■ 944 Der Monismus und die Entwickelungsgeschichte. XXX.
erblicke ich den Kern seiner Bedeutung. Denn ich gehöre zu
jenen Naturforschern, welche an eine wahre „Natur-Geschi chte“
glauben, und denen die historische Erkenntnis der Vergangenheit
ebenso hoch steht wie die exakte Erforschung der Gegenwart.
Der unschätzbare Wert des hi s tor i schen Bewußt s e ins kann
nicht genug betont werden in einer Zeit, in welcher die Geschichtsforschung
bald ignoriert, bald auf den Kopf gestellt wird, und in
welcher eine ebenso anspruchsvolle als beschränkte „exakte Schule“
sie durch physikalische Experimente und mathematische Formeln
ersetzen will. Die historische Bildung kann aber durch keinen
anderen Wissenszweig ersetzt werden!
Freilich sind die Vorurteile, welche der allgemeinen Anerkennung
dieser „natürlichen Anthropogenie“ entgegenstehen, auch
heute noch ungeheuer mächtig; sonst würde schon jetzt der uralte
Streit der verschiedenen philosophischen Systeme zu Gunsten des
Moni smus entschieden sein. Es läßt sich, aber mit Sicherheit
voraussehen, daß die allgemeinere Bekanntschaft mit den genetischen
Tatsachen jene Vorurteile mehr und mehr vernichten und
den Sieg der naturgemäßen Auffassung von der „Stellung des
Menschen in der Natur“ herbeiführen wird. Wenn man dieser
Aussicht gegenüber vielfältig die Befürchtung aussprechen hört,
daß dadurch ein Rückschritt in der intellektuellen und moralischen
Entwickelung des Menschen herbeigeführt werde, so kann ich
Ihnen dagegen meine Ueberzeugung nicht verbergen; daß dadurch
gerade umgekehrt die fortschreitende Entwickelung des menschlichen
Geistes in ungewöhnlichem Maße gefördert werden wird.
Denn jeder Fortschritt in der tieferen Erkenntnis der Wahrhe i t
bedeutet zugleich einen Fortschritt in der höheren Ausbildung
unserer menschlichen Ve rnunf t ; und in ihrer Anwendung auf
das praktische Leben eine entsprechende Vervollkommnung unserer
Si t t l i chke i t . Nur durch Wahrheit und Vernunft aber können
wir die schlimmsten Feinde des Menschengeschlechts bekämpfen:
Unwissenheit und Aberglauben! Jedenfalls wünsche und hoffe ich,
Sie durch diese Vorträge davon fest überzeugt zu haben, daß das
wahre wissenschaftliche Verständnis des menschlichen Organismus
nur auf demjenigen Wege erlangt werden kann, welchen wir überhaupt
in der organischen Naturforschung als den einzig richtigen
und zum Ziele führenden anerkennen müssen, auf dem Wege der
En twi c k e lu n g s g e s ch i c h t e !
XXX. 945
Sechzigste Tabelle.
Phylogenie der Punktionen ( = Physiogenie).
Uebersicht über die Hauptstufen in der Stammesgeschichte
der menschlichen Lebenstätigkeiten.
I. Erste Hauptstufe in der Phylogenie der Funktionen:
Die Lebenstätigkeit der Protisten.
D e r O r g a n i s m u s i s t e i n e e i n f a c h e P l a s t i d e (anfangs
kernlose Cytode, später kernhaltige Zelle), weiterhin ein einfacher Ve rein
v o n gleichartigen Zellen; ohne Gewebe, ohne Darm.
i. Erste Stufe: Das Leben der Chromaceen.
D e r p r o t o p h y t i s c h e Organismus (ohne Organe!) — durch Archigonie
entstanden (S. 520, 5 3 g ) — ist ein h o m o g e n e s P l a s m a k o r n , oder
ein vegetales M o n e r ( C h r o o c o c c u s , S. 533); seine ganze Lebenstätigkeit
b e s te h t 'in dem chemischen Prozeß der Plasmodomie (= = Kohlenstoff-
Assimilation), Wachstum u nd Ve rme hrun g durch Teilung.
2. Zweite Stufe: Das Leben der Algarien.
D e r p r o t o p h y t i s c h e Organismus ist eine einfache v e g e t a l e Z e l l e
(E r e m o s p h a e r a , P a lm e l l a , S. 539), aus der Chromaceen-Cytode entstanden
durch den ältesten biologischen Differenzierungsprozeß, durch Sonderung
des inneren Zellkerns (N u c i e u s , Karyoplasma) vom äußeren Zellenleibe
{ C y t o s o m a , Cytoplasma). S. 536. D a s Karyop la sm a besorgt die F ort pflanzung
u nd Vererbung, das Cytoplasma die E rn ä h ru n g u nd Anpassung.
3. - Dritte Stufe: Das Leben der Protozoen.
D e r p r o t o z o i s c h e Organismus ist eine einfache a n im a l e Z e l l e ,
d urch M c t a s i t i s m u s (S. 540) aus der vegetalen Algarienzelle entstanden;
d er plasmodöme Stoffwechsel der letzteren hat sich in die plasmophage
Ern ä h ru n g der ersteren verwandelt. D ie Bewegungen des nackten (von
der Zellhülle befreiten) Cytosoma sind anfangs amoeboide (A m o e b i n a ),
später flagellate (I n f u s o r i a ). S. 5 3 6— 541.
4. Vierte Stufe: Das Leben der Coenobien.
D u rc h bleibende Vereinigung v o n gleichartigen Protozoenzellen entstehen
die ältesten animalen Z e i l v e r e i n e .(Coenobid) ; kugelige Ko lo n ie n
v o n Geißelzellen, gleich den C a t a l l a c t a u nd V o l v o c i n a . D ie W a n d der
H ohlku ge l bildet eine einfache Zellenschicht, gleich dem B l a s t o d e r m der
B l a s t u l a . Vergl. die B l a s t a e a d e n , S. 5 4 3— 5 4 7 .
II. Zweite Hauptstufe in der Phylogenie der Funktionen:
Die Lebenstätigkeit der Coelenterien.
D e r O r g a n i s m u s i s t . ' e i n v i e l z e l l i g e s M e t a z o o n o h n e
C o e l o m , aus mindestens zwei verschiedenen Zellenschichten (Geweben)
zusammengesetzt (E k t o d e r m u nd E n t o d e r m ) , mit einem einfachen D a rm roh r
{U rd a rm u nd Urmund), aber noch ohne After, ohne Leibeshöhle, ohne
Blutgefäße.
H a e c k e l, Anthropogenie. 5. Aufl. 60