
Organen entwickeln, so auch die Seele im Zusammenhang mit
dem Gehirn. Ist ja doch gerade die stufenweise Entwickelung
der Kindesseele eine so wundervolle und herrliche Erscheinung,
daß jede Mutter und jeder Vater, die offene Äugen zum Beobachten
besitzen, nicht müde werden, sich daran zu ergötzen.
Nur allein die Lehrbücher der Psychologie wissen von einer solchen
Entwickelung nichts, und man muß fast auf den Gedanken kommen,
daß die Verfasser derselben niemals selbst Kinder besessen haben.
Die Menscheriseele, wie sie in den allermeisten psychologischen
Werken dargestellt wird, ist nur die einseitig ausgebildete Seele
eines gelehrten Philosophen, der zwar sehr viel Bücher kennt, aber
nichts von Entwickelungsgeschichte weiß und nicht daran denkt,
daß auch diese seine eigene Seele sich entwickelt hat.
Dieselben dualistischen Philosophen müssen natürlich, wenn
sie konsequent sind, auch für die Stammesgeschichte der menschlichen
Seele einen Moment annehmen, in welchem dieselbe zuerst
in den Wirbeltierkörper des Menschen „eingefahren“ ist. Demnach
müßte zu jener Zeit, als der menschliche Körper sich aus dem
anthropoiden Affenkörper entwickelte (also wahrscheinlich in der
neueren Tertiärzeit), plötzlich einmal ein spezifisch menschliches
Seelenelement — oder wie man es auszudrücken pflegt, ein „göttlicher
Funke“p||j| in das anthropoide Affengehirn hineingefahren
oder hineingeblasen sein und sich hier der bereits vorhandenen
Affenseele assoziiert haben. Welche theoretischen Schwierigkeiten
diese Vorstellung darbietet, braucht nicht auseinandergesetzt zu
Werden. Ich will nur darauf hin weisen, daß auch dieser „göttliche
Funke“, durch den sich die menschliche Psyche von allen Tierseelen
unterscheiden soll, doch selbst wieder ein entwickelungsfähiges
Ding sein muß und tatsächlich im Laufe der Menschengeschichte
sich fortschreitend entwickelt hat. Gewöhnlich versteht
man unter diesem „göttlichen Funken“ die „Ve rnunf t “ und
meint damit dem Menschen eine ganz besondere Seelenfunktion
zuzuweisen, die ihn von allen „unvernünftigen Tieren“ unterscheidet.
Die vergleichende Psychologie beweist uns aber, daß dieser Grenzpfahl
zwischen Mensch und Tier keinenfalls haltbar ist. Entweder
nehmen wir den Begriff der Vernunft im weiteren Sinne, und
dann kommt dieselbe den höheren Säugetieren (Affen, Hunden,
Elefanten, Pferden) ebenso gut wie den meisten Menschen zu;
oder wir fassen den Begriff der Vernunft im engeren Sinne, und
dann fehlt sie der Mehrzahl der Menschen ebenso gut wie den
meisten Tieren. Im ganzen gilt noch heute von der Vernunft des
Menschen dasselbe, was seiner Zeit Goethes Mephisto sagte:
„Ein wenig besser würd’ er leben,
• „Hätt’st Du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben:
„Er nennt’s „Vernunft“ und braucht’s allein,
„Nur tierischer als jedes Tier zu sein.“
Wenn wir demnach diese allgemein beliebten und in vieler
Beziehung recht angenehmen dualistischen Seelentheorien als
völlig unhaltbar, weil mit den genetischen Tatsachen unvereinbar,
fallen lassen müssen, so bleibt uns nur die entgegengesetzte
monistische Ansicht übrig, wonach die Menschenseele, gleich jeder
anderen Tierseele, eine Funktion des Zentralnervensystems ist und
in untrennbarem Zusammenhänge mit diesem sich entwickelt hat.
Ontog ene t i s ch sehen wir das an jedem Kinde. P h y l o g
ene t i s ch müssen wir dasselbe nach dem Biogenetischen Grundgesetze
behaupten. Wie sich bei jedem menschlichen Embryo
aus dem Hautsinnesblatte das Markrohr, aus dessen Vorderteil die
fünf Hirnblasen der Schädeltiere und aus diesen das Säugetiergehirn
entwickelt (zuerst mit den Charakteren der niederen, dann
mit denen der höheren Säugetiere), und wie dieser ganze onto-
genetische Prozeß nur eine kurze, durch Ve r e rb u n g bedingte
Wiederholung desselben Vorganges in der Phylogenese der Wirbeltiere
ist, so hat sich auch die wunderbare Geistestätigkeit des
Menschengeschlechts im Laufe vieler Jahrtausende stufenweise aus
der unvollkommenen Seelentätigkeit der niederen Wirbeltiere
Schritt für Schritt hervorgebildet, und die Seelenentwickelung
jedes Kindes ist nur eine abgekürzte Wiederholung jenes langen
und verwickelten phylogenetischen Prozesses. Aus allen diesen
Tatsachen muß die nüchterne reine Vernunft den Schluß ziehen,
daß der herrschende Glaube an die Un s t e r b l i c h k e i t der
menschlichen Seele ein unhaltbarer Aberglaube ist; ich habe seinen
Widerspruch gegen die moderne Naturerkenntnis im elften Kapitel
meiner „Welträtsel“ eingehend bewiesen.
Hier werden Sie nun auch inne werden, welche außerordentliche
Bedeutung die An thro po g eni e im Lichte des Biogenetischen
Grundgesetzes für die Phi lo sophie erlangen wird. Die
spekulativen Philosophen, die sich der ontogenetischen Tatsachen
bemächtigen und dieselben (jenem Gesetze gemäß) phylogenetisch
■ deuten werden, die werden bedeutendere Fortschritte in den
Hauptfragen der Philosophie herbeiführen, als den größten Denkern
aller Jahrhunderte bisher gelungen ist. Unzweifelhaft muß jeder
konsequente und klare Denker aus den Ihnen vorgeführten Tatsachen
der vergleichenden Anatomie und Ontogenie eine Fülle
von anregenden Gedanken und Betrachtungen schöpfen, die ihre