
ich selbst in diesem Buche nicht weiter auf diese anthropologischen
und prähistorischen Forschungen eingehen kann. Nur muß ich
nochmals hervorheben, daß ich den scheinbaren Gegensatz, in
welchen sich Klaatsch bezüglich der mißliebigen „Abstammung
des Menschen vom Affen" zu meinen eigenen, hier vorgetragenen
Ansichten stellt, als irrtümlich und nicht berechtigt ansehen muß.
Der größte und einflußreichste Gegner dieser Pithecoiden-
Theorie — sowiè der ganzen Descendenztheorie überhaupt — war
bekanntlich seit dreißig Jahren (bis zu seinem Tode, im September
1902) der berühmte Berliner Anatom Rudolf Virchow. In zahlreichen
Reden, welche derselbe alljährlich auf den verschiedensten
Kongressen und Versammlungen über die „Frage aller Fragen“
hielt, wurde er nicht müde, die verhaßte „Affentheorie“ zu bekämpfen.
Sein kategorischer Schlußsatz lautete beständig: „Es
ist ganz gewiß, daß der Mensch nicht vom Affen oder von irgend
einem-anderen Tiere abstammt“, und dieser grundfalsche Satz ist
unzählige Male von den Gegnern der Abstammungslehre, besonders
von Theologen und Philosophen wiederholt worden. In der feierlichen
Eröffnungsrede, die Virchow 1894 auf dem Anthropologen-
Kongresse in Wien hielt, behauptete er sogar, „daß der Mensch
ebensogut vom Schafe oder Elefanten, als vom Affen abstammen
könne“ (vergl. meinen Cambridge-Vortrag, S. 49). Diese absurden
Aeußerungen beweisen nur, daß der berühmte pathologische
Anatom, der als Begründer der Cellularpathologie sich die größten
Verdienste um den Fortschritt der Medizin erworben hat, auf dem
Gebiete der von ihm irregeleiteten Anthropologie die unentbehrlichen
Kenntnisse in vergleichender Anatomie und Ontogenie, in
systematischer Zoologie und Paläontologie nicht besaß. Es muß
als ein besonderes Verdienst des Anatomen Gustav Schwalbe in
Straßburg hervorgehoben werden, daß er den moralischen Mut
besaß, diesen dogmatischen, jeder Begründung entbehrenden Irrlehren
von Virchow entgegenzutreten und deren Haltlosigkeit zu
beweisen. Die vortrefflichen neueren Abhandlungen von Schwalbe
über den Pithecanthropus erectus, über die ältesten Menschenrassen
und über den Neandertalschädel (1897— 1901) liefern für
jeden unbefangenen und kritischen Leser das empirische Material,
mittels dessen er sich von der Grundlosigkeit der irreführenden
dogmatischen Lehren von Virchow und seinen klerikalen Genossen
(ƒ. Ranke, f . Buniüller u. s. w.) überzeugen kann.
Da der Pithecanthropus erectus bereits den aufrechten Gang
des Menschen besaß, und da sein Gehirn (— nach dem Inhalt
seiner Schädelhöhle zu urteilen, Fig. 338 —) genau in der Mitte
stand zwischen dem Gehirn der niedersten Menschen und der
Menschenaffen (Taf. XVII, Fig. | Taf. XXII, XXIII), so müssen
wir annehmen, daß der wichtigste weitere Schritt m der Fortbildung
vom Pithecanthropus zum Menschen die höhere Ausbildung
der menschlichen Sprache und Vernunft war.
Die vergleichende Sprachforschung hat uns neuerdings gezeigt,
daß die eig ent l iche mens chl iche Spr a che po lyphyle -
t i schen Ur sprung s ist, daß wir mehrere (und wahrscheinlich
viele) verschiedene Ursprachen unterscheiden müssen, die sich unabhängig
voneinander entwickelt haben. Auch lehrt uns die Entwickelungsgeschichte
der Sprache (und zwar sowohl ihre Ontogenie
bei jedem Kinde, wie ihre Phylogenie bei jeder Rasse), daß die
eigentliche menschliche Begriffssprache erst aUmahlich sich entwickelt
hat, nachdem bereits der übrige Körper sich m der spezifisch-
menschlichen Form ausgebildet hatte. Wahrscheinlich trat sogar die
Sprachbildung erst ein, nachdem bereits die Divergenz der verschiedenen
Menschen-Species und -Rassen stattgefunden hatte, un
dies geschah vermutlich erst im Beginne der Quartärzeit oder der
Diluvialperiode. Die sprachlosen Affenmenschen oder Alalen haben
sicher schon gegen Ende der Tertiärzeit, während der Pliocänpenode,
vielleicht sogar schon in der Miocänperiode existiert.
-Als die dreißigste und letzte Stufe unseres tierischen Stammbaumes
würde nun schließlich der echte oder sprechende Mensch
(Homo) zu Betrachten sein, der sich aus der vorhergehenden Stufe
durch die allmähliche Fortbildung der tierischen Lautsprache zur
artikulierten menschlichen Wortsprache entwickelte. Ueber Ort und
Zeit dieser wahren „Schöpfung des Menschen“ können wir
nur sehr unsichere Vermutungen ' aufstellen. Der Ursprung der
Urmenschen“ fand wahrscheinlich während der Diluvialzeit m
der heißen Zone der alten Welt statt, entweder auf dem Festlande
des tropischen Afrika oder Asien, oder auf einem früheren (jetzt
unter den Spiegel des Indischen Ozeans versunkenen) Kontinente
(Lemurien), der von Ostafrika (Madagaskar, Abyssinien) bis nach Ostasien
(Sunda-Inseln, Hinterindien) hinüberreichte. Welche gewichtigen
Gründe für diese Ab s tammung des Menschen von
anth ro p o id enOs t a f f en sprechen, und wie die Verbreitung der
verschiedenen Menschen-Arten und-Rassen von jenem „Paradiese
aus über die Erdoberfläche ungefähr zu denken ist, habe ich
bereits in meiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ ausführlich
erörtert (XXVIII. Vortrag und Taf. XXX). Ebendaselbst habe ich
auch die Verwandtschafts-Beziehungen der verschiedenen Rassen
und Species des Menschengeschlechts näher erläutert102).