
verschiedenen Gebiete in ihrem inneren Zusammenhänge sich einzig
und allein durch die Descendenztheorie erklären und begreifen
lassen, deshalb müssen wir diese letztere für ein umfassendes
Induktionsgesetz halten.
Wenn wir nun aber dieses Induktionsgesetz wirklich zur Anwendung
bringen und mit seiner Hülfe die Abstammung der
einzelnen Organismenarten zu ergründen suchen, so müssen wir
notgedrungen uns ph y lo g ene t i s che Hypothe s en bilden,
welche einen wesentlich dedukt iven Charakter tragen, welche
Rückschlüsse aus der allgemeinen Descendenztheorie auf den
einzelnen besonderen Fall sind. Diese speziellen Deduktionsschlüsse
sind aber nach den unerbittlichen Gesetzen der Logik auf unserem
Erkenntnisgebiete gerade so berechtigt, so notwendig, so Unentbehrlich,
wie die generellen Induktionsschlüsse, aus denen sich
die gesamte Entwickelüngstheorie aufbaut. Au c h die Lehr e
von den t ier i s chen Stammfo rmen_des Mens cheng
e s c h l e c h t s i st ein solches spez iel les Ded u k t ion s ge
se t z , we l che s , mit lo g i s che r No twe nd i g k e i t aus
dem g ene r e l l en Indukt ions g e s e t z e der De s c en d en z theor
ie f o l g t 86).
Wie gegenwärtig allgemein, sowohl von den Anhängern, wie
von den Gegnern der Abstammungslehre zugegeben wird, haben
wir bezüglich der Entstehung des Menschengeschlechts jetzt nur
noch die Wahl zwischen zwei grundverschiedenen Annahmen: wir
müssen uns entwede r zu dem Glauben bequemen, daß alle verschiedenen
Arten von Tieren und Pflanzen, und ebenso auch der
Mensch, unabhängig voneinander durch den übernatürlichen Prozeß
einer göttlichen „Schöpfung “ entstanden sind, welcher als solcher
sich der wissenschaftlichen Betrachtung überhaupt entzieht —
oder wir sind gezwungen, die Descendenztheorie in ihrem ganzen
Umfange anzunehmen, und in gleicher Weise wie die verschiedenen
Tier- und Pflanzenarten, so auch das Menschengeschlecht von einer
uralten einfachsten Stammform abzuleiten. Ein Drittes zwischen
diesen beiden Annahmen gibt es nicht. Entwede r blinden
Schöpfungsglauben, oder wissenschaftliche Entwickelungstheorie 1
Bei Annahme" der letzteren, welche bei naturwissenschaftlicher
Auffassung des Weltalls allein möglich ist, sind wir durch die
vergleichende Anatomie und Ontogenie in den Stand gesetzt, die
menschliche Ahnenreihe in der gleifchen Weise annähernd bis zu
einem gewissen Grade zu erkennen, wie das auch bei allen übrigen
Organismen mehr oder weniger der FaH. ist.
Nun wird Ihnen bereits durch unsere bisherigen Untersuchungen
über die vergleichende Anatomie und Ontogenie des Menschen und
der anderen Wirbeltiere vollkommen klar geworden sein, daß wir
den Stammbaum des Menschengeschlechts zunächst nur im Wi rbel t
ier s tamme suchen können. Es kann gar kein Zweifel darüber
existieren, daß (wenn überhaupt die Descendenztheorie richtig ist!)
sich der Mensch als echtes Wi r b e l t i e r entwickelt hat, daß er
aus einer und derselben gemeinsamen Stammform mit allen übrigen
Wirbeltieren entstanden ist. Diese spezielle Deduktion ist als v o l l kommen
g e s i che r t zu betrachten; vorausgesetzt natürlich die
Richtigkeit des Induktionsgesetzes der Descendenztheorie. Kein
einziger Anhänger der letzteren kann gegen diesen wichtigen Deduktionsschluß
einen Zweifel erheben. Wir können ferner innerhalb
des Wirbeltierstammes eine Reihe von verschiedenen Formen
namhaft machen, welche als Vertreter verschiedener aufeinander
folgender phylogenetischer Entwickelungsstufen, oder als verschiedene
Glieder unserer Ahnenreihe, mit Sicherheit betrachtet werden
können. Anderseits können wir mit der gleichen Bestimmtheit
nachweisen, daß sich der Wirbeltierstamm als Ganzes aus einer
Gruppe von niederen und wirbellosen Tierformen gebildet hat; und
auch unter diesen können wir wieder mit mehr oder weniger Klarheit.
eine Reihe von Gliedern der Vorfahrenkette erkennen.
Wir wollen jedoch gleich hier ausdrücklich darauf aufmerksam
machen, daß die Sicherheit dieser verschiedenen Descendenzhypo-
thesen, die auf lauter speziellen Deduktionsschlüssen beruhen, höchst
ungleich ist: Einzelne dieser Schlüsse stehen schon jetzt unerschütterlich
fest; andere sind umgekehrt sehr zweifelhaft; bei
noch anderen wird es von dem subjektiven Maße der Kenntnisse
und der Schlußfähigkeit des Naturforschers abhängen, welchen
Grad von Wahrscheinlichkeit er denselben beimessen will. Jedenfalls
haben Sie immer wohl zu unterscheiden zwischen der a b soluten
Sicherheit der generellen (induktiven) Decendenz -Theor ie
und der r e la t iv en Sicherheit der speziellen (deduktiven) Descendenz
Hypothesen. Wir können allerdings niemals mit derselben
Sicherheit, mit welcher wir die Descendenztheorie als die
einzige wissenschaftliche Erklärung der organischen Gestaltungen
betrachten, die ganze Ahnenreihe oder Vorfahrenkette eines Organismus
feststellen. Vielmehr wird der spezielle Nachweis aller
Stammformen im einzelnen stets mehr oder weniger unvollständig
und hypothetisch bleiben. Das ist ganz natürlich. Denn alle die
maßgebenden Schöpfungsurkunden, auf welche, wir uns stützen,