
Arbeiten des russischen Zoologen Kowalevsky, der längere Zeit
in Neapel verweilt und sich mit der Entwickelungsgeschichte
niederer Tiere beschäftigt hatte. Ein glücklicher Zufall hatte diesen
ausgezeichneten Beobachter fast gleichzeitig auf die Entwickelungsgeschichte
des niedersten Wirbeltieres, des Amp h io x u s , und
auf diejenige eines wirbellosen Tieres geführt, dessen unmittelbare
Verwandtschaft mit dem Amphioxus man am wenigsten vermutet
hätte, nämlich der Asc idie. Zur größten Ueberraschung aller
Zoologen, die sich für jene wichtige Frage interessierten, ergab
sich von Anbeginn der individuellen Entwickelung an die größte
Uebereihstimmung in der Bildungsweise zwischen diesen heiden
ganz verschiedenen Tieren, zwischen jenem niedersten Wirbeltiere
einerseits, und diesem mißgestalteten, am Meeresgründe
festgewachsenen Wirbellosen andererseits. Mit dieser unleugbaren
Uebereinstimmung der Ontogenese, welche bis zu einem überraschenden
Grade nachzuweisen ist, war natürlich nach dem Biogenetischen
Grundgesetze unmittelbar auch die längst gesuchte
genealogische Anknüpfung gefunden, und die wirbellose Tiergruppe
bestimmt erkannt, welche zu den Wirbeltieren die nächste Blutsverwandtschaft
besitzt Durch C. Kupffer, Eduard Van Beneden
und Julin, sowie später durch viele andere Zoologen, wurde jene
wichtige Entdeckung bestätigt^ und es kann heute kein Zweifel
mehr' sein, daß unter allen Klassen der wirbellosen Tiere diejenige
der Manteltiere, und unter diesen die Ascidien die nächsten Blutsverwandten
der Wirbeltiere sind. Man kann nicht sagen: die
Wirbeltiere stammen von den Ascidien ab — und ebensowenig umgekehrt!
— wohl aber darf man sicher behaupten: unter allen
wirbellosen Tieren sind die Tunicaten, und unter diesen wieder
die Ascidien, diejenigen, welche der uralten Stammform der Wirbeltiere
am nächsten blutsverwandt sind. Als gemeinsame Stammgruppe
beider Stämme muß eine ausgestorbene Familie aus dem
gestaltenreichen Würmerstamme angenommen werden: die Pro-
chordonien oder Prochordaten („Urchordatiere“).
Um nun dieses außerordentlich wichtige Verhältnis genügend
zu würdigen und besonders für den von uns gesuchten Stammbaum
der Wirbeltiere die sichere Basis zu gewinnen, ist es unerläßlich,
die Keimesgeschichte jener beiden merkwürdigen Tierformen eingehend
zu betrachten und die individuelle Entwickelung des Amphioxus
mit derjenigen der Ascidie Schritt für Schritt zu vergleichen.
(Vergl. Täf. XVIII und S. 466.) Wir beginnen mit der
Ontogenie des Amp h io x u s (vergl. Fig. 247— 265 undTaf. XVIII,
Fig. 7— 12), Ueber diese sind wir jetzt ganz genau unterrichtet
durch die höchst sorgfältigen Untersuchungen, welche der Wiener
Zoologe Hatschek im Frühjahr 1879 anstellte, und welche die Angaben
von Kowalevsky in erwünschter Weise bestätigen, ergänzen
und weiter ausführen. Amphioxus prototypus bewohnt in zahlloser
Menge den Ufersand eines kleinen Salzsees, welcher in der
Nähe des Fischerdorfes Faro, am nördlichen Eingang der Meerenge
von Messina liegt, und welcher mit dem Meere nur durch
einen engen Graben zusammenhängt. Ich habe dort im Frühjahr
1893 in einer Stunde mehrere tausend Exemplare gefangen. An
diesem Orte hielt sich Professor Hatschek zehn Wochen auf (von
April bis Juni 1879), um die ganze Keimesgeschichte des Lanzet-
tierchens in ununterbrochenem Zusammenhänge vollständig zu erforschen.
Es gelang ihm dies so vollkommen, daß wir seine 1881
veröffentlichten „Studien über Entwickelung des Amphioxus“ als
einen der wichtigsten Grundsteine betrachten dürfen, auf welchem
wir die maßgebende Bedeutung dieses niedersten Wirbeltieres für
die Anthropogenie feststellen.
Aus den übereinstimmenden Beobachtungen, welche Kowalevsky
in Neapel und Hatschek bei Messina anstellten, geht zunächst
hervor, daß die totale Eifurchung und die reguläre Gastru-
lation des Amphioxus in der einfachsten Weise verlaufen; dieser
Modus ist derselbe, den wir bei vielen niederen Tieren aus verschiedenen
- wirbellosen Stämmen finden, und den wir früher als
den ursprünglichen oder primordialen bezeichnet haben, auch
die Ascidie entwickelt sich ganz nach demselben Typus. Die ge-
schlechtsreifen Personen von Amphioxus, welche vom April oder
Mai an massenhaft bei Messina auftreten, beginnen gewöhnlich
erst am Abende ihre Geschlechtsprodukte zu entleeren; wenn man
sie jedoch an einem warmen Nachmittage fängt und in ein Glasgefäß
mit Seewasser setzt, stoßen sie sofort, infolge dieser Störung,
die aufgespeicherten reifen Geschlechtszellen durch die Mundöffnung
aus. Die Männchen entleeren ganze Wolken von Sperma durch
den Mund, und auch die Weibchen werfen die Eier in solcher
Menge aus, daß noch viele an ihren Mundfäden hängen bleiben.
Beiderlei Geschlechtszellen gelangen zunächst durch Berstung der
Gonaden in die Mantelhöhle, durch die Kiemenspalten in den
Kiemendarm, und aus diesem durch die Mundöffnung nach außen.
Die Eier sind einfache rundliche Zellen. Sie haben nur
1 /t 0 Millimeter Durchmesser, sind also halb so groß als die Säugetiereier
und bieten durchaus nichts Besonderes dar (Taf. XVIII,