
Bau und Entwickelung die Ursprachen, Muttersprachen, Tochtersprachen
und Mundarten in der Tat vollständig den. Klassen,
Ordnungen, Gattungen und Arten des Tierreiches. Das „natürliche
System“ ist hier wie dort phylogenetisch. Wie wir durch die
vergleichende Anatomie und Ontogenie und durch die Paläontologie
zu der festen Ueberzeugung geführt werden, daß alle ausgestorbenen
und lebenden Wirbeltiere von einer .gemeinsamen
Stammform abstammen, so gelangen wir durch das vergleichende-
Studium der .ausgestorbenen und lebenden indogermanischen
Sprachen zu der unerschütterlichen Ueberzeugung einer gemeinsamen
Abstammung aller dieser Sprachen von einer gemeinsamen
Ur sprache. Diese monophy l e t i s che Ansicht ist jetzt von
allen bedeutenden Linguisten angenommen, welche dieses Gebiet
bearbeitet haben und welche eines kritischen Urteiles fähig sind.
Derjenige Punkt aber, auf den ich Sie bei diesem Vergleiche
der verschiedenen indogermanischen Sprachzweige mit den verschiedenen
Zweigen des Wirbeltierstammes ganz besonders aufmerksam
machen möchte, ist der, daß Sie niemals die direkten
Descendenten mit den Seitenlinien, und ebenso niemals ausgestorbene
Formen mit lebenden verwechseln dürfen. Diese Verwechselung
geschieht sehr häufig, und unsere-Gegner benutzen
sehr oft die aus solchen Verwechselungen entspringenden irrtümlichen
Vorstellungen, um die Descenderiztheorie (überhaupt zu
bekämpfen. Wenn wir z. B. die-Behauptung aufstellen, daß der
Mensch vom Affen und dieser letztere vom Halbaffen, sowie der
Halbaffe vom Beuteltier abstamme, so denken sehr viele Leute
dabei nur an die bekannten noch lebenden Arten dieser verschiedenen
Säugetierordnungen, welche ausgestopft in unseren.
Museen sich befinden. Unsere Gegner aber schieben uns selbst
diese irrtümliche Auffassung unter und behaupten mit mehr
Hinterlist als Verstand, daß das ganz unmöglich sei; oder sie
verlangen wohl gar, daß wir auf dem Wege des physiologischen
Experimentes ein Känguruh in einen Halbaffen, diesen letzteren
in einen Gorilla und den Gorilla in einen Menschen verwandeln
sollen! Dieses Verlangen ist ebenso kindisch, als jene Auffassung
irrig ist. Denn alle diese noch lebenden Formen habén sich mehr
oder weniger von -der gemeinsamen -Stammform entfernt, und keine
von ihnen kann dieselbe divergierende Nachkommenschaft erzeugen,
welche jene Stammform vor Jahrtausenden wirklich erzeugt hat.
Unzweifelhaft stammt der Mensch. von einer ausgestorbenen
Säuget i e r-Form ab; und wir würden diese sicher in die Ordnung
der Af f e n stellen, wenn wir sie vor uns sehen könnten. Ebenso
unzweifelhaft stammt dieser Uraffe wiederum von einem unbekannten
Ha lba f fen und dér letztere von einem ausgestorbenen
Beuteltiere ab. Aber ebenso unzweifelhaft ist es, daß alle diese
ausgestorbenen Ahnenformen nur ihrem wesent l iéhen inneren
Bau nach und wegen der Uebereinstimmung in den ent s
cheidenden anatomi schen Ordnung s cha r a kt e r en als
Angehörige jener noch lebenden Säugetierordnungen angesprochen
werden dürfen. In der äußeren Form, in den Genus-und Species-
charakteren werden sie mehr oder weniger, vielleicht sogar sehr
bedeutend von allen lebenden-Vertretern jener Ordnungen verschieden
gewesen sein. Denn es muß als ein ganz allgemeiner
und -natürlicher Vorgang in der phylogenetischen Entwickelung
gelten, daß die Stammformen selbst mit ihren spezifischen Eigen-
türtilichkeiten - seit längerer oder kürzerer Zeit ausgestorben sind.
Diejenigen Formen, welche ihnen unter den lebenden Arten am
nächsten stehen, sind doch mehr oder weniger, vielleicht sehr
wesentlich von ihnen verschieden. Es kann sich also bei unseren
phylogenetischen Untersuchungen und bei der vergleichenden Betrachtung
der noch lebenden divergierenden Nachkommen nur
darum handeln, den näheren oder weiteren Abstand der letzteren
von der Stammform zn bestimmen. Keine einzige ältere Stammform
hat sich bis heute unverändert fortgepflanzt.
Ganz , dasselbe Verhältnis treffen wir bei Vergleichung der verschiedenen
ausgestorbenen und lebenden Sprachen wieder, welche
sich aus einer und derselben gemeinsamen Ursprache entwickelten.
Wenn wir in diesem Sinne unseren Stammbaum der indogermanischen
Sprachen betrachten, so werden wir von vornherein schließen
dürfen, daß alle die älteren Ursprachen, Grundsprachen und Muttersprachen,
als deren divergierende Töchter- und Enkelsprachen wir
die heute lebenden Mundarten dieses Stammes betrachten müssen,
seit längerer oder kürzerer Zeit ausgestorben sind. -Und das ist
auch in der Tat der Fall. Die arioromanische und die slavo-
germanische Hauptsprache sind längst völlig verschwunden, ebenso
die arische und die gräkoromanische, die slavolettische und die
germanische Ursprache. Aber auch deren Töchter und Enkelinnen
sind längst ausgestorben, und alle heute lebenden indogermanischen
Sprachen sind nur insofern verwandt, als sie divergierende Nachkommen
von gemeinsamen Stammformen sind. Die einen Formen
haben sich mehr, die anderen weniger von diesen ursprünglichen
Stammformen entfernt.