E i n i g e
R e s u l t a t e
d e r o b i g e n
U n t e r s
u c h u n g e n .
D a s
M i l c h g e b i ß
a l s
h i s t o r i s c h e s
Dokument.
Aus den obigen Darlegungen heben wir zunächst folgende Ergebnisse hervor:
1) Das Zahnsystem bei Microgale ist, ohne in irgend einer Weise rückgebildet zu
sein, weniger einseitig differenziert als das aller übrigen Centetiden, und zwar gilt dies für
die kleineren Arten in viel höherem Grade als für die größte M. dobsoni, bei welcher eine
bei Insectivoren häufige Umbildung im Zahnsysteme angebahnt ist.
2) Das Zahnsystem von Oryzorictes und Limnogale, ebenso wie dasjenige der auch
in anderen Organisationsverhältnissen stark einseitig angepaßten Potamogale läßt sich unmittelbar
von dem bei Microgale ableiten, während eine umgekehrte Ableitung undenkbar ist,
3) Das Zahnsystem keiner der drei Centetinae ist unmittelbar von einem der heute
bekannten Oryzorictinae-Formen ableitbar und bei allen drei treten einseitige, in verschiedenen
Richtungen gehende Differenzierungen auf: bei Centetes ist es ,,raubtier“artig, bei Plemi-
centetes stark verlängert und teilweise rückgebildet, bei Ericulus stark verkürzt.
Die hier vorgetragene Auffassung von dem Differenzierungsgange des Zahnsystems
der Centetidae deckt sich, wie wir gesehen haben, nicht nur mit a lle n Tatsachen bezüglich
der einzelnen Zähne, sondern auch mit der Vorstellung, welche die Musterung der Gesamtorganisation
uns auf drängt.
Zu dieser Auffassung sind wir auf vergleichend-anatomischem Wege gelangt. Da
die Paläontologie uns in diesem Falle im Stiche läßt1, müssen wir uns daher, um uns
zu überzeugen, inwiefern der hier angenommene Entwicklungsgang einen wirklich h i s t o r i s
ch e n Verlauf darstellt, nach einem anderen Mittel umsehen.
Schon früher habe ich2 den Nachweis geliefert, welcher heute als wohlbegründet angenommen
sein dürfte, d a ß d as M i lc h g e b iß d e r S ä u g e t i e r e — abgesehen von in
jedem einzelnen Falle nachzuweisenden Rückbildungserscheinungen bei demselben —- e in e
h is to r is c h ä lt e r e P h a s e in der E n tw i c k lu n g des Z a h n s y s tem s a ls das E r s a t z g
e b iß r e p r ä s e n t ie r t .3 Das Studium des Milchgebisses, kritisch gehandhabt, ist somit
geeignet, einen Ersatz für fehlende paläontologische Urkunden abzugeben. Und in dieser
Beziehung liegen in unserem Falle die Verhältnisse besonders günstig.
Die Centetidae und Chrysochloridae zeichnen sich vor fast allen anderen Insectivoren
ebenso wie vor der großen Mehrzahl der übrigen heute lebenden Säugetiere dadurch aus,
| Hierüber siehe unten.
* 95 Pa g- *4° S 02 p ag. 42.
3 Von besonderem Interesse ist e s , daß auch die n i e d e r e n W i r b e l t i e r e Belege fü r diese Tatsache abgeben.
Schon v or längerer Zeit hat Koken (87) nachgewiesen, daß bei ganz jungen Tieren der Eidechse T u p i -
n am b i s t e g u i x i n alle Zähne durch die wenig differenzierte, ursprünglichere dreispitzige Kronenform mit allmähligem
Übergang zwischen vorderen und hinteren ausgezeichnet ist. Bei alten Individuen dagegen sind die vorderen Oberkieferzähne
schlank, spitzig und stark nach hinten geb ogen, während die hinteren gänzlich von diesen verschieden sind: dick,
rundlich, mit einer knopfförmig aufgesetzten Spitze.
Noch überzeugender is t folgender Fall. Der gewöhnliche afrikanische V a r a n u s n i l o t i c u s unterscheidet sich
bekanntlich von übrigen Varanus-Arten dadurch, daß nur die vorderen Zähne hakenförmig gebogen sind, während die
hinteren eine dicke und stumpfe Krone haben. Durch die sorgfältigen Untersuchungen Lönnbergs (03) ist nachgewiesen
worden, daß dieses Gebiß durch Anpassung an die für diese A r t eigentümliche Nahrung entstanden ist. Diese besteht nämlich
vorzugsweise aus großen Landschnecken (Achatina), deren Schale zu zerbrechen die hinteren Zähne dienen. Die beim
jugendlichen T ie re vorkommende Dentition setzt sich dagegen aus lauter spitzigen, nach hinten gebogenen Zähnen zusammen.
D i e s e z u e r s t a u f t r e t e n d e D e n t i t i o n h a t s om i t d i e f ü r V a r a n u s u r s p r ü n g l i c h e Z a h n f
o rm b e w a h r t , w ä h r e n d d i e s p ä t e r e n D e n t i t i o n e n a b g e ä n d e r t s in d .
d aß d er Z a h n w e c h s e l in e in e s e h r s p ä t e L e b e n s p e r io d e f ä l l t , r e sp . n a c h dem
d a s I n d iv id u u m e rw a c h s e n un d g e s c h l e c h t s r e i f is t .1
Schon früher hat Hensel (75) nachgewiesen, daß bei D id e lp h y s der letzte Prä-
molar — bekanntlich der einzige Zahn, welcher bei den heutigen Beuteltieren überhaupt
einen Nachfolger hat — im weiblichen Geschlecht erst n a ch der ersten Schwangerschaft
gewechselt wird. Daß einzelne Milchzähne bei verschiedenen H u f t ie r e n erst lange nach
dem Durchbruch des letzten Molars ersetzt werden, und daß sämtliche Milchbackenzähne zusammen
mit allen Molaren bei einigen alttertiären Pluftieren funktionierend nachgewiesen
sind, habe ich schon früher betont.2
In viel ausgeprägterer Weise tritt uns aber die lange Persistenz des Milchgebisses
bei Centetidae und Chrysochloridae entgegen. Indem bezüglich der Einzelheiten auf das
Vorhergehende verwiesen wird, sei hier daran erinnert, daß bei Microgale, Hemicentetes
und Ericulus der Zahn Wechsel erst beendet ist, nachdem das Tier völlig erwachsen
ist, während bei Centetes derselbe früher erfolgt, was jedenfalls damit im Zusammenhänge
steht, daß dessen Zahnsystem, wie wir gesehen haben, das am höchsten differenzierte unter
den Centetiden ist. Mit letzterem Umstande im kausalen Zusammenhänge steht wiederum
der höhere oder geringere Grad der Übereinstimmung zwischen Milch- und Ersatzzähnen,
wie schon oben3 betont ist.
D ie s e T a t s a c h e n b ew e is e n , wie ich schon früher hervorgehoben habe1, d aß
das j e t z t b e i d er g r o ß e n M eh r z a h l d er S ä u g e r nur tem p o rä r e M i lc h g e b iß
e in s t und b e i t ie f e r s te h en d e n S ä u g e rn n o ch h e u te w i c h t i g e r e , a u f e in e n
g r ö ß e r e n L e b e n s a b s c h n it t s ic h e r s t r e c k e n d e F u n k t io n e n g e h a b t h a t und
n o c h h a b e n k an n . Zugleich überbrücken sie die Kluft, welche den Zahnwechsel der
höheren Säugetiere von dem der niederen Wirbeltiere trennt: ebensowenig wie bei diesen
letzteren ist bei besagten Säugern der Zahnwechsel auf die Jugendperiode des Individuums
beschränkt. Und ebenso wie bei den niederen Wirbeltieren sind bei den fraglichen Säugetieren
(Centetidae, Chrysochloridae), bei denen das Milchgebiß sich bis in eine spätere Lebensperiode
erhält, die aufeinander folgenden Dentitionen von wesentlich gleichem Baue.
Aus diesen Tatsachen folgt aber ferner, d a ß e in sp ä te r , e r s t b e im v ö l l ig r e ife n
In d iv id u um v o r s ic h g e h e n d e r Z a h n w e c h s e lw i e bei Centetidae und Chrysochloridae
— a l s e in p r im i t i v e r C h a r a k t e r z u g zu b e t r a c h t e n ist.
Immerhin finden sich, auch bei den fraglichen Centetidae und Chrysochloridae, wie
wir gesehen, im Bau und in der Größe einige Differenzen zwischen Milch- und Ersatzgebiß.
Diese Differenzen sind aber vom stammesgeschichtlichen Standpunkte aus um so bedeutungsvoller,
als ja bei unseren Tieren der Zahnwechsel in eine Periode fällt, wenn die Lebens-
resp. Ernährungsweise schon längst keinen Veränderungen mehr unterworfen ist. Also: die
b e id e n D e n t i t io n e n h a b e n d i e s e lb e F u n k t io n , a b e r t r o t z d em e in e e tw a s
a n d e r e G e s t a l t u n g .
1 Vergleiche meine früheren Untersuchungen 97 pag. 515 und 04 pag. 219.
* 04 pag. 220.
3 Siehe oben pag. 7.
‘ 95 pag. 152-