Das Zahnsystem.
D i e
k l e i n e r e
M i c r o g a !
A r t e n .
V e r g l e i c h e n d e r Teil .
1. Centetidae.
Wie bei Erinaceidae und Talpidae vollzieht sich auch innerhalb der Familie der
Centetidae in der Antemolarreihe ein Umbildungsprozeß / dessen einzelne Phasen sich
sozusagen unter unseren Augen abspielen. Dieser Umstand macht das Studium einer
solchen Tiergruppe an einem einigermaßen umfangreichen Materiale verschiedener Arten
besonders anziehend, da es uns Einsicht in Entwicklungsgesetze, gewähren kann, welche die
Artenbildung beherrschen. Dagegen sehen wir aus Gründen, welche schon in der Einleitung
dargelegt sind, von der Herstellung einer mehr oder weniger plausiblen Ahnengalerie der
Centetidae ab, zu deren Aufbau jedenfalls die Hypothese das meiste Material liefern müßte.
Indem ich für Einzelheiten auf die Darlegung des Tatsachenmaterials im vorigen
Kapitel verweise, gebe ich hier zunächst eine vergleichende Darstellung des Zahnsystems als
Ganzes bei den verschiedenen Centetidae.
Bei den kleineren M i c r o g a 1 e - Arten ( lo n g ic a u d a ta , p u s i l la , c ow an i und g ra -
n' c i l i s , Fig. i— 6, 9, io) treffen wir ein Gebiß an, welches, verglichen mit dem der übrigen
le Mitglieder der Familie, weder in besonders einseitiger Richtung differenziert, noch in irgend
einem Punkte offenbar rückgebildet ist: die Schneide- und Eckzähne sind in ihrem Gesamtbau
übereinstimmend und der Höhenunterschied zwischen ihnen ist gering; der Eckzahn
steht vermittelnd zwischen Schneidezähnen und Prämolaren; die letzteren gehen allmählich
in die Molaren über. Wir haben also hier ein Gebiß, das sich in hohem Grade zum Ausgangspunkt
einer vergleichenden Darstellung des Zahnsystems eignet. Daß dieser Ausgangspunkt
aber nicht bloß ein ideeller, sondern ein real historischer ist, wird sich aus der folgenden
Untersuchung ergeben. Bei den genannten Arten lassen sich zwei Richtungen unterscheiden.
Bei der einen, welche von M. c ow an i und g r a c i l i s vertreten ist, sind die vorderen
Antemolaren mehr oder weniger hakenförmig gebogen mit starker hinterer Basalspitze
und rückgebildeter vorderer. Da außerdem bei M. gracilis der Schnauzenteil verlängert ist,
wodurch P2 isoliert zu stehen kommt, hat sich hier, was die Antemolaren betrifft, ein Zustand
ausgebildet, welcher demjenigen bei Hemicentetes (siehe unten) analog ist.
Bei der anderen, von M ic r o g a le lo n g ic a u d a t a und p u s i l la repräsentierten Entwicklungsstufe
weisen die Antemolaren durch die Form der Hauptspitze und durch die stärkere
Ausbildung der vorderen Basalspitze eine noch größere Gleichförmigkeit untereinander und damit
auch eine geringere Differenzierung auf. Da nun außerdem bei a lle n Microgale-Arten auch
der Übergang zwischen Prämolaren und Molaren ein allmählicher ist, so hat das Gesamtgebiß
— und zwar im höchsten Grade, wenn die Antemolaren des Milchgebisses noch vorhanden
sind — ein wenig differenziertes Gepräge. Nur I31 erscheint etwas rückgebildet. Daß die
beiden genannten Microgale-Gruppen in nahem genetischen Zusammenhänge stehen, geht
unter anderem aus dem gelegentlichen Vorkommen einer Eckzahnform im Oberkiefer bei
M. cowani (Textfig. X) hervor, welche mit derjenigen bei M. longicaudata und pusilla übereinstimmt.
Bei allen Microgale-Arten ist P4 vollkommen molariform; P3 bildet den Übergang
von der einfachen Kronenform zum Molartypus.
Aus einem Zustande, welcher sich zunächst demjenigen bei M. longicaudata-pusilla
anschließt, ist das Gebiß der größten untersuchten Microgale-Art, M. d o b s o n i2 (Fig. 7, 8),
hervorgegangen. Die Gleichförmigkeit, welche das Gebiß der vorigen Arten kennzeichnet,
ist bei dieser durch eine Differenzierung gestört worden, welche eine gewöhnliche Erscheinung
bei Insectivora (Erinaceidae, Talpidae, Soricidae) ist: einer der vorderen Schneidezähne
ist stark ausgebildet, während die mittleren Antemolaren Rückbildungen aufweisen.
Somit ist 1 1 schmäler und länger geworden als bei den vorigen und hat dabei die hintere
Basalspitze eingebüßt; der Anschluß an die vorigen wird dagegen von dem Verhalten im
Milchgebiß bekundet, indem der Größenunterschied zwischen Id 1 und Id 2 geringer ist und
Id 1 noch die hintere Basalspitze bewahrt hat. Ferner ist I z stärker verlängert, • während
andere Zähne, wie namentlich 13, P 2 und P 3, rückgebildet sind. Doch ist der fragliche
Prozeß, wenn auch mit denselben Mitteln — vornehmlich Differenzierung derselben Schneidezähne
— hervorgebracht wie bei Ericulus (vergl. unten), weniger weit gediehen als bei diesem
oder bei Erinaceus; so sind hier keine Zähne, mit Ausnahme des I3, welcher manchmal
fehlen kann3, verloren gegangen. Eine andere bemerkenswerte Parallelerscheinung zu den
genannten Tieren ist, daß C innerhalb des Formenkreises dieser Art sich von einem mit
dem bei M. longicaudata-pusilla übereinstimmenden, prämolarartigen Stadium zu einem mehr
an die typische Eckzahnform erinnernden erhebt (siehe oben pag. 11— 12, Textfig. XII— XV).
Die obere Schneide-Eckzahnreihe erreicht also bei M. dobsoni eine Entwicklungsstufe, welche
etwa dem Stadium 4 bei E r in a c e u s e u ro p a e u s entspricht.4 In diesem Zusammenhänge
mag besonders betont werden, daß nicht eines unter den 58 untersuchten Individuen von
M. cowani einen Anlauf zu einer solchen Eckzahnform macht; die die letztere Art auszeichnende
hakenförmige Schneide- und Eckzahnform ist jedenfalls mit einer solchen Entwicklung
unvereinbar. In Hinblick auf die noch zu besprechenden analogen Befunde bei
Ericulus ist zu erwähnen, daß M j etwas mehr reduziert ist als bei den vorigen Microgale-
Arten.
Das Gebiß bei L im n o g a le (Fig. 16— 19) und P o tam o g a le (Fig. 20— 26) ist in
erster Linie dadurch ausgezeichnet, daß in der Antemolarenreihe — etwa mit Ausnahme
M i c r o g a l e
d o b s o n i , d i e
h ö c h s t d i f f e -
r e n z i e r t e
M i c r o g a l e -
A r t .
im n o g a l e
u n d
t am o g a l e .
' Hier und im Folgenden werden die o b e r e n Z ä h n e als 1 1, Id x, P 2 etc., die u n t e r e n als 1 1, Id 1, P 2 etc.
bezeichnet. I i , I d i , P 2 bezeichnet den fraglichen Zahn sowohl im Ober- als Unterkiefer.
2 Mit M. dobsoni soll nach Major (96) die noch größere M. t a l a z a ^ ^ im Gebiß übereinstimmen. Die übrigen
Microgale-Arten, welche bisher nur in einzelnen Exemplaren bekannt sind, kenne ich nicht aus eigener Anschauung.
Fü r eine Beurteilung ihres Gebisses liegt in der Literatur kein Material vor; wesentlichere Modifikationen der hier vertretenen
Auffassung dürfte durch sie wohl kaum veranlaßt werden.
3 Major 97 pag. 543.
* Vergleiche hierüber Le che 02 pag. 19 sowie die folgenden Darlegungen über Eckzahnentwicklung, aus denen
die Berechtigung der Annahme, daß das Prämolarstadium den Ausgangspunkt bildet, hervorgeht.