Soviel dürfte demnach Idar sein: jede noch so kleine Veränderung der Schwerpunktslage und
der Steuerorgane kann einen positiven oder negativen Selektionswert haben.
Eine Art Beispiel derartiger Selektion lernten wir im flachen Frederiksborger See kennen, in
welchem während der warmen Monate die ausgewachsenen, obwohl noch jugendlichen Weibchen
durchweg zugrunde gehen, vermutlich weil sie infolge der Lage ihres Schwerpunkts und der Ausbildung
ihres Helmsteuers nicht dieselben, in diesem See und zu dieser Zeit notwendigen Schwimmrichtungen
innehalten wie die jugendlichen Tiere. (Vergl. S. 523.)
Nachdem wir derart den Nutz- bezw. Schadenwert kleiner Varianten der pelagischen Fortsätze
dargetan haben, bleibt noch die Frage nach dem Selektionswert der nicht pelagischen Anf a n g s s
t a d i e n dieser Merkmale übrig.
Bei dieser Frage wollen wir uns auf die zurzeit am besten bekannte pelagische Eigenschaft
beschränken, auf die He l m b i l d u n g , deren sämtliche Vorstadien wir noch heute realisiert sehen
können. Wir sahen, wie schon bei kriechenden Cladoceren an den Rautenwinkeln des Panzers Zähnchen
auftreten, und wie diese Zähnchen bei den im Wasser „hüpfenden“ Daphnien insbesondere am ventralen
Schalenrand — nach hinten gerichtet — und am dorsalen Kopfkontur — nach vorn gerichtet —
ausgebildet sind, wahrscheinlich weil bei dieser Domstellung das nach jedem Ruderschlag die
Vorwärtsbewegung störende Zurückpendeln des Körpers am meisten verlangsamt wird.
Wir sahen ferner, daß die erste nachweisbare Anlage eines Helmes in einem einzigen nach vorn
gekrümmten Zähnchen besteht, das am Scheitel besonders von jungen D. galeata und cucullata auch
heute noch oft genug sich findet.
Die Frage lautet nun: kann bereits dieses Scheitelzähnchen einen Nutzwert für seine Träger
haben, obwohl es deren „Schwebvermögen“ doch ganz sicherlich nicht erhöht?
Durch direkte Beobachtung (im beschränkten Raum eines Aquariums) kann zwar diese Frage
nicht entschieden werden, weil die Tiere hier nicht die langhin geradlinigen Bahnen wie in ihrem
natürlichen Habitat beschreiben. Dennoch glaube ich die Frage auf Grund einer einfachen Überlegung
bejahen zu können.
Ein solches Zähnchen, das ich am Scheitel vieler Rassen von D. cucullata, auch
solcher, die keinen eigentlichen Helm bilden, beobachtete, verlängert den Kopf immerhin
um durchschnittlich V12 bis V25 seiner Länge. Dadurch und durch die ventralwärts gerichtete Krümmung
wird dreierlei erreicht:
1. Erhöhung des Reibungswiderstandes gegen das Zurückpendeln des Kopfes (gilt für
alle am Kopf befindlichen, nach vom gerichteten Zähnchen).
2. Durch die Verlängerung des Kopfes (= Belastung des kurzen Hebelarms): Ver s
c h i e b u n g des S c hwe r p u n k t s in der Richtung des Ansatzpunkts der Bewegung.
Auch dadurch Verminderung des Zurückpendelns aus der mehr horizontalen in die mehr vertikale
Stellung der Längsachse. (Vgl. dazu die Abbildungen des II. Kapitels.)
3. Durch die ventralwärts gerichtete Krümmung: Steuerung der Vorwärtsbewegung nach
unten. Auch dadurch wird die infolge der Achsenwirkung der Schwerkraft schräg nach oben-
vorwärts gerichtete Bewegung (Fig. 25) etwas mehr in die Horizontale abgelenkt: die Spitze des
Fahrzeugs wird infolge abwärts gestellten Steuers vom Wasserwiderstand herabgedrückt.
Wir sehen also, wie ein so unscheinbares Gebilde in verschiedenen Beziehungen auf eine nützliche
Veränderung der Gesamtbewegungsrichtung hinwirken kann. Mag die wirksame Kraft auch sehr
klein sein — etwa der eines Spazierstocks vergleichbar, mit dem wir ein Ruderboot zu steuern suchen,
aber auch (Punkt 2) der Wirkung eines minimalen Gewichts bei empfindlicher Wage vergleichbar —
so summieren sich erstens dreierlei Wirkungen, und zweitens sahen wir ja eben, daß jeder noch so kleine
Deviationswinkel für das Endresultat einer langhin geradlinigen Bewegung bedeutungsvoll werden kann.
Den Nutzwert der Folgestadien dieses Helmanfangs brauchen wir nicht mehr im einzelnen
zu untersuchen, nur auf eines möchte ich noch zum Schluß aufmerksam machen. Der Scheitelzahn
einer kurzköpfigen jungen D. cucullata ist v e n t r a lw ä r t s gerichtet, weil bei ihrer Schwerpunktslage
die köpf aufrichtende Gravitationswirkung noch merklich, die „Horizontalisierung“
ihrer Sprungrichtung durch diese Steuerstellung also nützlich ist. Der Helm junger 1 a n g-
köpfiger Daphnien dagegen pflegt d o r s a l wärts gebogen zu sein, weil bei diesen g mit b ganz
oder beinahe zusammenfällt (Fig. 29), so daß die ventralwärts gerichtete Eigenbewegung nicht mehr
durch Rumpfsenkung kompensiert wird; daher ist nunmehr eine Steuerung der Vorwärtsbewegung
nach oben nützlich, um auch m diesem Falle die — sonst köpf abwärts führende ■— Schwimmrichtung
zu einer horizontalen zu machen.
Es kann nicht wundernehmen, daß diese lebendigen Fahrzeuge, die sich beständig durch
Wachstum, Altern, Ernährungszustand etc. verändern, recht verschiedenartige Kompensationsverhältnisse
ihrer am Zustandekommen der Bewegungsrichtung beteiligten Körperformen (Fig. 34)
aufweisen, wobei alle die einzelnen Kompensierungen und Gegenkompensierungen, soviel ich sehe,
nur durph Zugrundegehen der unrichtig gelenkten Fahrzeuge erklärt werden können.
Die Tatsache ferner, daß hauptsächlich diejenigen Cladoceren (und Rädertiere), welche
keine verstellbaren, sondern festgelegte Steuerflächen haben, die vielbewunderte Variabilität
der 'Fortsätze zeigen, in auffälligem Gegensatz zu denen, welche durch aktive Verstellung ihrer
Steuer und Verlegung ihres Schwerpunkts die jeweilig nützliche Schwimmrichtung einschlagen
können, diese Tatsache scheint mir besonders unzweideutig dafür zu sprechen, daß die lokalen
wie die periodischen Varianten der „pelagischen Körperfortsätze“ durch ihren jeweiligen Nutzwert,
‘entsprechend den Verschiedenheiten der Richtungs-Erfordernisse (Nahrungsschicht u. a.)
und der Richtungs-Bedingungen (Bewegungsenergie u. a.) differenziert sind.
C. Vorkommen, Wesen und Bedeutung der lokalisierten Labilität.
Wir haben im Abschnitt A dieses Kapitels, als wir den Ante il der M i 1 i e u w i r k u n g an der Entstehung „pelagischer
Fortsätze“ isoliert betrachten wollten, gesehen, daß dieser Faktor zwar in der T at erbliche Variation hervorrufen kann, daß er
aber a n s i c h nichts weiter zu bewirken vermag, als eine a l l s e i t i g e , proportionale Verlängerung oder Verkürzung derjenigen
Körperfortsätze, deren Ausbildung von Blutdruck oder Ernährung abhängig ist.
Wir haben ferner im Abschnitt B gezeigt, daß bei bestimmten Fortsätzen des Kopfes und der S chale infolge d er eigenartigen
Funktion solcher „Richtungsorgane“ schon sehr geringe BlastoVarianten s e l e k t i o n s w e r t i g sein können.
E s erhebt sich nun aber noch die Frage, ob diese beiden Faktoren allein genügen, um die charakteristischen Art- und
Rassenunterschiede unserer Daphnien und Bosminen zu erklären. Diese Charaktere bestehen ja in d i s p r o p o r t i o n a l e n
u n d p r o g r e s s i v g e s t e i g e r t e n Verlängerungen (bezw. Verkürzungen) einzelner Organe und Körperregionen.
E s ist selbstverständlich, daß d ie beiden äußeren Faktoren Milieu und S elektion nicht wirken könnten, wenn n ich t a ls innerer
Faktor eine gewisse L a b i l i t ä t von Organen und Anlagen m it im Spiele wäre, ohne die überhaupt keine Artbildung möglich
ist. Aber es is t fraglich, ob für unsem Fall d iese allgemeine Variabilität der lebenden Substanz g enügt, denn sie vermag ja — zusammen
m it dem allseitigen Milieueinfluß — auch nur allgemeine (proportionale) Änderungen zu liefern.
Wir brauchen nun diese Frage gar nicht zu diskutieren, denn in der T at finden w ir b ei den Cladoceren eine n icht allgemeine,
sondern scharf lokalisierte Labilität oder Variationsfähigkeit, welche offenbar für die Ausbildung einseitiger Körperfortsätze von
besonderer Bedeutung sein muß. Wir wollen sie etwas näher untersuchen.