Ich. habe schon früher (19091. c.) konstatiert, daß die Länge der Helme etc. von der jeweils herrschenden
Assimilationsintensität (als Produkt von Ernährung, Temperatur und der inneren Assimilationskonstante)
bedingt ist. Ich kann dem jetzt hinzufügen, daß der Druck der Leibesflüssigkeit („Blut“)
diejenige Funktion dieser Assimilationszustände ist, welche direkt die wechselnde Länge der Fortsätze
bewirkt. Daneben spielt natürlich die Quantität, Größe (Ernährungszustand) und die Dehnbarkeit
der Substratzellen (Hypodermis) eine mitbestimmende Bolle.
Wenn wir ferner einen fertigen Embryo im Dauerei oder im Brutraum betrachten, so
bemerken wir, daß alle Fortsätze noch weich, kurz, meistens gebogen (Spina, Helm) sind, ferner daß
die langen Borsten zumal der Schwimmantennen tie f in das Körperinnere (bis in die
Ba sa lg lied e r!) ein g e stü lp t sind. Wenn dann der Embryo aus dem Fruchtwasser des Dauereis
oder aus dem Brutraum in das freie Wasser gelangt, so sehen wir, wie alle Fortsätze mit beträchtlicher
Geschwindigkeit gestreckt oder ausgestülpt werden; auch dafür kann bei dem Fehlen aller
Fig. 38. Bedeutung d es Blutdrucks für die Helmlänge einer
H yalodaphnia.
Ein langhelmiges junges ? , se it der le tzten Häutung bei
verringerter Nahrung gehalten. Die Hypodermis h a t sich
von der Helmspitze zurückgezogen (schraffiert), ihr äußerer
Rand bezeichnet, als Indikator des zur Zeit herrschenden
Blutdrucks, die Länge des neuen Helms.
Fig. 39. Stirnhorn und Mucronen v on Scapholeberis
(a nach G r u b e r , b nach L i 11 j e b o r g ) .
In der Regel is t nur ein kurzer Dorn am Kopf vorhanden, oder
es fehlt auch dieser, a zeigt ein langes aber noch deutlich ab -
gesetztes Horn, bei b ist der Vorderkopf mitgestreckt worden.
Hautmuskeln — keine andere Kraft verantwortlich gemacht werden, als der Binnendruck der
Leibesflüssigkeit.
Sobald also irgendwo ein Fortsatz, d. h. eine Ausstülpung der Körperwand, entsteht — und
jeder h o h l e Chitindorn ist eine solche — so ist auch schon eine Kraft vorhanden, welche auf
diesen Fortsatz dehnend, verlängernd einzuwirken vermag.
Es sind aber nur bestimmte Begionen des Körpers, in welchen eine weitere Verlängerung und
Umgestaltung solcher Hohlgebilde sich konstatieren läßt, und zwar sind das sämtlich Stellen stärkerer
Oberflächenkrümmung, also die „Ecken“ oder prominenten Punkte des Schalen- und Kopfkonturs
(Fig. 34). Nur an solchen Stellen sehen wir Stadium 4 verwirklicht: die Bildung eines Hauptzahns
mit Nebendomen, also die Entstehung eines aus vielen Strukturelementen zusammengesetzten
Körperfortsatzes, eines „neuen Or ga ns “. Fig. 37 zeigt diese Entwicklung in schematischer
Darstellung. Auf solche Weise sind höchst wahrscheinlich auch die Mucronen (bei Bosmina und
Scapholeberis, Fig. 39), ferner Spina, Fornixspitzen und Bostrumfortsatz bei Daphnia entstanden;
sicherlich entstehen auf diese Weise die Nackenfortsät^e (Fig. 40) und H e l m b i l d u n g e n .
Das aus sehr vielen Hypodermiszellen bestehende Extrem, der sommerliche Cucullata-Hel m oder die
lange, mit vielen Nebendornen besetzte Spina oder auch das lange Stirnhorn von Scapholeberis,
das ich noch zum Vergleich heranziehen möchte (Fig. 39), alles das ist im Prinzip nichts anderes
als etwa die nach dem Schema der Fig. 37 (e, f) entstehenden, in Fig. 40 a, g dargestellten Nackenfortsätze:
ein Chitinzähnc'hen, das bei seiner durch Blutdruck bewirkten Streckung die benachbarten
Hypodermiszellen in Mitleidenschaft gezogen hat.
Fig. 40. Verschiedene Formen von Nacken- und Scheitelzähnen (nach W a g 1 e r).
a) D . pülex, b— d, g) D. longispina, e) D . goleata, f) D. cucullata.
Bei e und f ist im Anschluß an das terminale Zähnchen ein Helmfortsatz, bei a und g im Anschluß an die Nackenzähnchen
ein Nackenfortsatz entstanden.
Wir werden im nächsten Abschnitt sehen, weshalb gerade und weshalb nur an den „prominenten
Punkten“ der Schale derartige Fortsätze sich bildeten, wobei wir davon absehen wollen,
daß an diesen Punkten stärkster Krümmung auch besondere Spannungsverhältnisse herrschen müssen.
Kap. IV. Zur Kausalanalyse einiger Richtungsorgane bei Cladoceren.
Wir haben jetzt die Funktion und die Herkunft einiger „pelagischer Körperfortsätze“ untersucht
und stehen nun zum Schluß vor der Frage nach den Ur s a c h e n dieser Artänderungen.
Nun ist das ja eines der beiden Zentralprobleme der Biologie überhaupt und zugleich d a s Problem
der gesamten Genetik. Es läßt sich deshalb eigentlich nur auf sehr breiter theoretischer Grundlage
behandeln, wovon wir aber hier gänzlich Abstand nehmen wollen. Vielmehr sei es gestattet, die
Fragestellung durchaus auf die von uns untersuchten Erscheinungen zu beschränken. Eine weitere
Beschränkung legen wir uns dadurch auf, daß wir nur nach dem Anteil der wichtigsten (und am
meisten umstrittenen) Artbildungsfaktoren fragen wollen, ferner dadurch, daß wir nur Organsteigerungen,
nicht auch die kaum weniger interessanten Bückbildungen1) betrachten. Demnach
lautet unsere Aufgabe:
A. We l c h e nAn t e i l h a t di e direkte Einwirkung des Milieus an den untersuchten
Artänderungen ?
B. We l ch e n Ant e i l h a t di e Selektion da r an?
C. We l ch e n Ant e i l h a t d a r a n die spezifische (disproportionale) Variabilität
e i n z e l n e r Organe ?
J) E s gelang’ mir 1912, aus einer laugköpfigen reinen Linie von 11yalodaphnia (Frederiksborg) k o n s t a n t kur z - '
k ö p f i g e Formen in einem meiner Leipziger Freilandbecken zu züchten.