Die Amputation der Spina — oder wie es häufig vorkommt, deren natürlicher Verlust — hat
keinen wesentlichen Einfluß auf die Gleichgewichtshaltung des Tieres; doch verlieren die Bewegungen
der operierten Tiere an Stetigkeit (Gradlinigkeit).
Eine dauernde Schädigung tritt infolge dieser Operationen meist nicht auf, die verlorenen Helme
werden — hei genügend jungen Tieren | | teilweise regeneriert. Darüber an anderer Stelle Näheres.
2. Amputation der kurzen Hörner von Bosmina longirostris (Fig. 8 a) bewirkt, daß die Tiere
Rollbewegungen über den Rücken ausführen oder in entsprechender Richtung im Kreise schwimmen.
Die Störung beruht aber nicht in einer Verschiebung des Schwerpunkts: operierte wie unoperierte
Tiere sinken, wenn man sie betäubt oder tötet, mit dem Rücken nach unten. Die Ursache jener
Rollbewegung ist vielmehr der ventralwärts gerichtete
Schlag der Antennen, der nicht mehr durch die
steuernde Wirkung der Hörner kompensiert wird.
3. Amputation der langen Hörner von
Bosmina coregoni bis zu den Riechborsten
(Fig. 10, a) hat weder ein Umkippen noch ein Kreis-
schwimmen zur Folge, sondern bewirkt nur, daß die
Tiere in steilen Bahnen aufwärts und abwärts
schwimmen, während sie vor der Operation durchschnittlich
horizontalere Richtungen einhielten.
Vollständige Entfernung der Antennen bis b
wirkt dagegen wie sub 2. —
l'ig. 10. Bosmina coregoni des Furesee, deren Vorderantennen
bei a oder bei b amputiert wurden. a t- t> -i -i , . , , Aus diesen ±>eobachtungen zog ich den
Schluß, daß die untersuchten Körperfortsätze als
Balance-Organe ebensowenig zu verstehen sind, als wir sie früher als Schweborgane richtig verstanden
haben. Gewiß spielt die Verlagerung des Schwerpunkts insbesondere beim Daphnia-Helm eine Rolle,
wie wir aus der veränderten Haltung der operierten Tiere sehen. Aber diese 'Rolle genügt selbst
hier nicht zur Erklärung, vor allem nicht zum Verständnis all der verschiedenen Helmformen
(„procurva“, „retrocurva“ etc.); bei den anderen Fortsätzen, deren statische Funktion wir durch
Amputationprüften, war überhaupt keine wesentliche Beeinflussung der Schwerpunktslage zu bemerken.
C. Die Körperfortsätze als Richtungs-Organe und ihre Bedeutung im Rahmen der übrigen
Faktoren der Bewegungsrichtung.
Diejenige Wirkung, welche allen diesen Bildungen gemeinsam ist, besteht weder darin, daß
sie den Sinkwiderstand erhöhen, noch darin, daß sie die Gleichgewichtserhaltung ermöglichen, wenn
auch diese Funktionen in einzelnen Fällen eine Rolle spielen mögen. Als die allen diesen Körperfortsätzen
gemeinsame, wichtigste Funktion werden wir etwas Anderes kennen lernen, nämlich:
daß sie die Schwimmrichtung regulieren, indem sie einerseits gradlinige Fortbewegung ermöglichen,
anderseits vorwiegend horizontale Schwimmbahnen bewirken. Wir werden diese Organe
deshalb wohl am besten als ,,R i c h t u n g s o r g a n e “ bezeichnen; und zwar fungieren sie teils
als F ü h r u n g s f l ä c h e n (wie die ,,Stabilisierungsflächen“ der Lenkballons und Unterseeboote),
teils als St eue r . Erstere dienen dazu, Abweichungen von der Vortriebsrichtung zu erschweren,
indem sie parallel der Fortbewegungsrichtung liegen und bei jeder Abweichung als Gegensteuer
wirken; letztere stehen beständig in einem bestimmten Winkel zur Richtung der Eigenbewegung
derart, daß die Schwimmrichtung eine Resultante aus Bewegungsrichtung (Schlagrichtung der Ruder)
und Steuerablenkung darstellt. Dazu kommt noch, wie wir sehen werden, der Einfluß der Schwerkraft
und der des Lichts.
Die Sachlage is t also leider wesentlich komplizierter, als wenn es sich wirklich um „Schweb“einrichtungen im bisher ge-
gebräuchlichen Sinne handelte; und sie is t so, daß w ir diese Organe nur dann richtig beurteilen können, wenn wir den g a n z e n
Komplex der die Bewegungen der Cladoceren beeinflussenden Faktoren überblicken, wobei wir auch die wirklichen Ursachen
des fälschlich als „Schweben“ bezeichneten Niveauhaltens dieser Schwimmkrebse1) sow ie diejenigen ihrer Wanderungen besser
erkennen werden.
Ein kurzes Eingehen auf diese scheinbar abliegenden Dinge — ich kann h ier nur ein Résumée meiner an einigen dänischen
Seen 2) und in den Laboratorien Leipzig und I-Iilleröd angestellten Versuche geben — ist aus zwei Gründen entschuldbar. Einmal
handelt es in Wirklichkeit um planktologische Fragen von recht allgemeiner Bedeutung; ihre Behandlung erscheint daher gerade
in diesem Festband und in Anknüpfung an die grundlegende Untersuchung C h u n s , von der wir ausgingen, angebracht. Anderseits
aber wollen wir ja in den nächsten Kapiteln die Herkunft und Kausalität dieser „Richtungsorgane“ untersuchen ; dafür ist
es durchaus nötig, ihre Funktion im R a h m e n a l l e r ü b r i g e n B e w e g u n g s f a k t o r e n zu erkennen,
Die wichtigsten dieser Bewegungs- und Richtungsfaktoren, welche also zugleich die Faktoren
des „Schwebens“ und der „Vertikalwanderung“ enthalten, sind folgende:
1. Der Einfluß der Schwerkraft.
2. Berührungsreize (an Oberfläche und Grund).
3. Der Einfluß des Lichts.
4. Die Änderungen der Vortriebsrichtung der Ruderorgane.
5. Der Einfluß des Wasserwiderstandes gegen den sich bewegenden Körper: Stabilisierung
und Ablenkung des Vortriebs durch die „Richtungsorgane“.
In dieser Reihe wird man den sonst in erster Linie betonten Einfluß der T e m p e r a t u r und der von ihr abhängigen
Viskosität und spezifischen Schwere, sowie der Konvektionsströmungen, ferner den Einfluß der N a h r u n g vermissen. Dazu
bemerke ich vorweg Folgendes: T e m p e r a t u r ä n d e r u n g e n haben für die Ortsbewegung der Cladoceren im wesentlichen
nur die Bedeutung, daß in kühlerem Wasser die Bewegungen langsamer sind als in wärmerem. Infolgedessen s i n k e n d i e
B - , lebendigen | B - T i e r e i m k a l t e n W a s s e r r a s c h e r a l s i m w a r m e n , obwohl sie das Umgekehrte tu n sollten
aus Rücksicht auf die Viskositätsänderungen. In den natürlichen Temperaturgrenzen, innerhalb derer die Bewegungen s ta t t finden
(nächtliche Abkühlung, Abkühlung von Oberfläche bis Sprungschicht) is t dieser Einfluß nicht sehr bedeutend. Vgl.
dazu die Formel S. 480 und Fig. 27.
D ie N a h r u n g der Planktoncladoceren spielt zwar, wie wir sehen werden, eine wahrscheinlich sehr große Rolle, aber
nur in genetisch-kausaler Beziehung: der heutige Bewegungsmechanismus ist entstanden, we il er für die Ernährung (und andere
Lebenserfordernisse) zweckmäßig war. Da aber durch nichts festgestellt (wenn auch n ich t einfach ausgeschlossen) ist, daß die
Nahrungsorganismen einen physiologischen Reiz auf die Cladoceren ausüben, so entfällt die Nahrung für unsere jetzige Betrachtung
der Bewegungsfaktoren.
1. Der Einfluß der Schwerkraft.
Die Gravitation wirkt in zwei verschiedenen Beziehungen auf diese Organismen ein. Erstens
zieht sie den Körper als Ganzes herab, sobald er ein größeres spezifisches Gewicht als das Wasser hat.
Das trifft, in verschiedenem Maße, für alle von uns betrachteten Cladoceren zu. Wir werden dieser
Wirkung später als „SinkWirkung“ wieder begegnen.
;« Für die Bewegungsrichtung noch wichtiger ist der Einfluß, den die Schwerkraft auf die Einstellung
der Körperachse ausübt („A c h s e nwi r k u n g“). Da der Schwerpunkt stets im Rumpf,
die Bewegungsachse, an welcher die hebende Kraft der Eigenbewegung ansetzt (Aufhängungspunkt)
1) ;)s c h w e b e n d e “ Planktoncladoceren, die also zeitweise bewegungslos im Wasser „stehen“, sind Diaphanosoma,
in geringerem Grad Moina, wahrscheinlich auch Holopedium.
2) Dank der wiederholten Gastfreundschaft des Dänischen Süßwasserbiologischen Laboratoriums in I-Iilleröd, dessen Leiter
Dr. W e s e n b e r g - L u n d ich auch hier meinen herzlichen Dank aussprechen möchte.