fest von der Richtigkeit des zitierten Satzes überzeugt. In der Naturziichtung glaubte ich den
Schlüssel zum Verständnis all der neuen imd bekannten Scliwebformen von Hy p e r i d e n zu
besitzen, die mir, zuerst aus den Schätzen der Valdivia-Expedition, in immer größerer Mannigfaltigkeit
zuflossen. Ich begann eine Bearbeitung, die über das bloß Deskriptive hinaus eine k a u s a l e
Ana l y s e der so weitgehend angepaßten Formen — ich erinnere nur an die auch in C h u n s Arbeit
abgebildeten Extreme Mimonectes und Rhabdosoma — in ähnlicher Weise versuchte, wie es dann
z. B. Häcker für die Radiolarien des Valdivia-Materials durchgeführt hat.
Je weiter ich aber damit kam und je näher ich gleichzeitig auch andere pelagische „Extreme“
(Siphonophoren u. dgl.) studierte, um so zweifelhafter wurde mir die Brauchbarkeit jenes Schlüssels,
um so unverständlicher wurden mir also die Ursachen und Ursprünge dieser pelagischen „Anpassungen“.
Die Zeitströmung trug wohl das Ihrige dazu bei, daß mir meine Arbeit trotz allen Reichtums
an neuen Formen immer unbefriedigender erschien: das Mutationsbuch von de Yries, die
Wiederaufnahme der M e n d e l’schen Faktorenforschung, die Selektionsstudien von J o h a n n s e n ,
all das war nicht geeignet, zu einer Kausalanalyse der Formen von Plankton- imd Tiefseeorganismen
auf der genannten Basis zu ermutigen. Noch dazu also von Tieren, deren Lebensweise jede experimentelle
Prüfung in Aquarien und Kulturen auszuschließen schien.
Das Hauptbedenken gegen eine s c h ö p f e r i s c h e Wirksamkeit der Selektion, wie Chun
sie annimmt, ist neben der Frage nach der H e r k u n f t der erblichen Varianten1) die Frage
nach dem N u t zw e r t der für jede Organbildung nötigen Anf änge.
Mein reiches Material an Arten und Unterarten von Hyperiden zeigte mir alsbald, daß mit
Sprungvariation (Mutation) hier nicht gerechnet werden darf, jedenfalls nicht in dem Sinne, daß aus
typisch gestalteten Krebsen plötzlich abgeflachte, aufgeblähte oder zu einem Stab verlängerte Wesen
hervorgegangen seien. In diesem Falle könnte gewiß von einem Nutzwert jeder neuen Form gesprochen
werden, nicht aber dann, wenn die Körperveränderung in kleinen Schrittchen vor sich gehen muß.
Angesichts der Tatsache nun, daß für das „Schweben“ der Krebse (wie der meisten Planktozoen)
zwei andere Faktoren wi clitigcr sind als die „Schwebform“, nämlich die Eigenbewegung und das
spezifische Gewicht, und daß diese beiden Kräfte beständigen Schwankungen ausgesetzt sind, die den
etwaigen Erfolg der Schwebfortsätze entweder weit übertreffen oder illusorisch maohen können,
ist die Annahme kaum möglich, daß b e g i n n e n d e „Schwebfortsätze“ als solche für ihre Träger
einen irgendwie ausschlaggebenden Wert im Daseinskampf haben.
Nun gibt es wohl dennoch keinen wirklichen Kenner des Planktons, der nicht die charakteristischen
und so vielfach konvergenten Formen der pelagischen Lebewesen für An p a s s u n g e n an
das umgebende und tragende Medium hielte, aber grade das eben erwähnte Bedenken gegen den
l ) Nach M o r g a n , L a n g , J o h a n n s e n , B a u r und vielen anderen ausgezeichneten Biologen, die ganz im Banne
der Faktoren- und Mutationslehre stehen, ist diese Frage d i e wissenschaftliche Frage der Artbildungslehre. Sie is t das allein
„grundlegende, kausale Problem“ , we il sie den „Ursprung der Mutationen und dessen Ursachen“ behandelt (M o r g a n ) . Die
Frage nach dem Selektionswert wird, falls überhaupt als wissenschaftlich, als eine ganz sekundäre betrachtet. Die Schaffung von
Arten geschieht entweder durch M u t a t i o n ( = Verlust oder Neubildung von Erbfaktoren) oder durch K o m b i n a t i o n
solcher Erbfaktoren bei der K r e u z u n g .
Nun müssen wir die letztere ohne weiteres aus unserer Betrachtung ausschalten, denn niemals können durch noch so vie l
änderung von Erbfaktoren ( = Reaktionskonstanten) werden wir dagegen kennen lernen, aber, nur als V o r a u s s e t z u n g
der eigentlichen Artbildung (Kap. IV). Die Frage, ob diese Neubildung auf kontinuierlicher oder diskontinuierlicher Variation
beruht, h a t zum Glück ihre Bedeutung nahezu verloren, se it allgemein zugegeben wird, daß kein durchgreifender Unterschied
vorhanden ist. Man kann j e d e Veränderung als diskontinuierlich betrachten und man findet anderseits im Bereich der diskontinuierlichen,
mendelnden Eigenschaften kleine transgressive Eigenschaftsstufen, die ebenfalls erblich sind (N i l s s o n - E h l e . )
Nutzwert der Organ a n f ä n g e dürfte die Ursache sein, daß viele Planktonforscher, an ihrer Spitze
der hervorragendste heutige Limnologe, We s e n b e r g - L u n d , geneigt sind, diese Anpassungen
weniger durch Selektion als vielmehr durch d i r e k t e Milieuwirkung zu erklären.
Und doch ist das ein ganz verzweifelter Ausweg angesichts dieser Körperformen und starren
Fortsätze, die Weder durch aktiven „Gebrauch“ noch durch „elementar-energetische“ Milieu-Einwirkung
(Semo n) entstanden oder gesteigert werden können, also weder den durch Kontraktion
oder Reizleitung beständig „arbeitleistenden“ Organen noch den durch äußere Einwirkungen (z. B.
Winddruck) direkt beeinflußbaren Formen in ihrer Entstehungsweise verglichen werden können.
Ganz abgesehen von den bekannten Schwierigkeiten, die j eder „somatogenen Vererbung“ entgegenstehen.
Mir selbst schienen daher die lamarckistischen Erklärungsversuche grade der Schweban-
passungen von vornherein aussichtslos zu sein, während die Bedenken gegen die von C h u n vertretene
darwinistische Erklärung dieser Organe erst nach und nach sich einstellten. —
Ich würde auf diese persönlichen Erfahrungen nicht eingegangen sein, wenn ich nicht wüßte, daß
sie durchaus typische sind, und wenn ich nicht glaubte, schließlich zu einer Klärung gekommen zu sein.
Das bahnte sich dadurch an, daß ich experimentelle Untersuchungen begann, um einige Sicherheit
über die Umbildungsfaktoren zu erlangen. Nachdem sich die Hyperiden als ganz ungeeignet zu
Versuchen und Kulturen erwiesen hatten, suchte ich eine andere Crustaceengruppe, bei der eine
ähnlich weitgehende und mannigfaltige Ausbildung von „Schwebe“-Organen mit der Möglichkeit
der Kultivierung und experimentellen Beeinflussung verbunden wäre.
Ein solches Material fand ich (1906) in den Süßwasser-Cladoceren Daphnia und Bosmina,
deren pelagische Formen, wie die Abbildungen 2—3 zeigen mögen, nicht weniger extrem verändert
sind, als die von Chun (1. c.) abgebildeten marinen Hyperiden, Dekapoden und Schizopoden. Mit
den schon erwähnten Eigenschaften verbinden sie noch den, wie J o h a n n s e n gezeigt hat, sehr
wesentlichen Vorteil, daß sie leicht in reinen Linien (durch Parthenogenesis) gezüchtet werden können.
An diesem Material konnte nun der mich interessierende O rg a n ty p u s „p e lag isch e Körper forts
ä tz e “, dem wir bei so vielen Krebsen und anderen Tieren wie Pflanzen des Meeres-und Süß Wasser -
planktons begegnen, zum ersten Male kausalanalytisch durchgearbeitet werden, wobei dreierlei notwendig
war:
Erstens eine Erkenntnis der nichtpelagischen B i l d u n g s e l em e n t e , aus denen die untersuchten
Fortsätze hervorgehen und hervorgegangen sind.
Zweitens eine Erkenntnis der F u n k t i o n , damit der ökologischen Bedeutung, damit des
N u t z w e r t e s der Fortsätze und ihrer Vor- und Anfangsstadien.
Drittens eine Erkenntnis der entscheidendenEntstehungsfaktoren der heutigen Bildungen,
also der Rolle, welche dabei dem Milieu, der Selektion, der Variabilität und Vererbung zufällt.
Mit dem Studium des dritten, weitläufigsten Fragenkomplexes, insbesondere mit der Variation
und Vererbung, hatte ich die experimentelle Arbeit begonnen, da ich die Funktion und Bedeutung
der pelagischen Fortsätze — als „S c h w e b o r g a n e“ — für völlig erwiesen hielt. Erst durch
die dabei entstehenden Schwierigkeiten wurde ich darauf aufmerksam, daß eine Revision dieser
Auffassung und damit leider viel zeitraubende Nebenarbeit unvermeidlich sei.
Diese umständliche Revision und ihre nächsten Konsequenzen bilden den Inhalt des folgenden Aufsatzes.
Sie hat mich, um das gleich vorwegzunehmen, zu der eingangs erwähnten Auffassung C h u n s über
die Bedeutung der S e lek tio n im wesentlichen zurückgeführt, imd zwar dadurch, daß sie mich unerwartet
die wahre Funktion derCladoceren-„Schweborgane“ kennen lehrte. So habenUmwege auch ihrGutes.