c. Stammesg eschichte de r Regulation.
1.
Zunächst bedarf die vorhin gewonnene Einsicht, daß es im Wesen der durch Reize vermittelten
Geschehnisse vielfach liegt, an mäßigen Störungen der absolut typischen Konfiguration,
wie sie in jeder längeren Ontogenesis normalerweise Vorkommen müssen, nicht
gleich zu scheitern, — der Vertiefung und Erweiterung. E s ist zu vermuten, daß die heilsame
Schmiegsamkeit der Reizmechanismen sich nicht nur den normalen Konfigurationsschwankungen
gegenüber, sondern manchmal auch dann noch bewähren werde, w e n n d ie
g e s e t z t e S t ö r u n g ü b e r d ie G r e n z e n d e s „ n o c h n o rm a l e n “ h in a u s g e h t : wenn
die räumlich-zeitlichen Beziehungen der Keimesteile zueinander infolge, schwerer innerer
Hemmung oder gewaltsamen.Eingriffes von außen a b n o rm geworden sind. U n d . diese
Annahme findet weitgehende Bestätigung.
Schon früher (p. 243) war davon die Rede, daß diejenigen formbildnerischen Effekte,
in deren Kausalität c h e m o t a k t i s c h e r R i c h t u n g s r e i z eine Rolle spielt, auch unter
stark abnormen Bedingungen erreicht werden können. So wandern nach D r i e s c h die
durch Schütteln in . ganz abnorme Situation gebrachten Mesenchymzellen der Echiniden-
larve zur vorgeschriebenen Zeit an die beiden Stellen, von denen der Reizstoff ausgeht. Bei
Ascaris wurden gewisse aus der normalen Klüftung zwar unmittelbar resultierende, zu ihrer
dauernden Erhaltung jedoch auf aktive Reizmechanismen angewiesene Kontaktverhältnisse,
nachdem sie gewaltsam gestört worden waren, sogar durch eigene, der typischen Entwickelung
unbekannte Dislokationen hergestellt. Dennoch erschienen uns diese in deskriptiver
Hinsicht auffallenden Geschehnisse, sobald wir ihre chemotaktische Natur bedachten, als
fast triviale Selbstverständlichkeiten. Ein chemischer Reizstoff wird ganz natürlich auch
dann noch programmgemäß wirken, wenn der Abstand der koordinierten Keimesteile
k l e i n e r ist, als normal. Und daß er seine Wirkungskraft auch bei abnorm v e r g
r ö ß e r t e r Distanz nicht gleich verlieren werde, ist äußerst wahrscheinlich. — Wir
wissen ferner aus früheren Erörterungen (p. 317), daß für die f o rm a t i v e n R e i z e gleiches
gilt. Wird z. B. ein hypothetischer gleichzelliger Ürdarm durch planmäßige V e r schränkung
zweier chemischen Reize, die einerseits von seiner Ansatzstelle, andererseits von
seinem blinden Ende geliefert werden, befähigt, „in der Mitte seiner Länge“ eine ringförmige
Einschnürung zu bilden, so tritt der gleiche E ffek t in typisch-proportionaler Weise
ein, wenn vor der kritischen Zeit die Zahl der Urdarmzellen auf einen Bruchteil des normalen,
etwa die Hälfte verringert, vielleicht auch dann, wenn sie aufs doppelte erhöht
worden war.
Jetzt aber fügen wir zu dem bereits bekannten etwas n eues : die prinzipielle „S chmiegsamkeit“
der formativen Reizmechanismen geh t unter Umständen noch sehr viel weiter.
Behalten wir das erdachte Beispiel der Urdarmgliederung im- A u g e und stellen uns vor,
die Zellen der Mittelzone würden, wenn der verschränkte Doppelreiz sie einmal getroffen
hat, auf Lebenszeit und unwiderruflich in die zur Einschnürung führende neue Bahn gedrängt,
so ist gewiß, daß eine nachträgliche, gewaltsame Störung der Konfiguration, z. B.
eine Verstümmelung des Darmes, auf das formbildnerische Verhalten der eingeschnürten
Zellen ohne jeden Einfluß wäre. Allein diese Verstellung ist keineswegs die einzig mögliche.
Wir könnten ebensogut auch glauben, daß hier die D a u e r der formbildnerischen
Reaktion von einer f o r t l a u f e n d e n Einwirkung des Reizes abhängig sei; daß also die
Zellen der eingeschnürten Zone, falls der Doppelreiz aus irgend einem Grunde plötzlich versagen
sollte; i h r e d i f f e r e n z i e l l e S e l b s t g e s t a l t ü n g u n d S e l b s t o r d n u n g a u f g
e b e n , in d e n n e u t r a l e n , a l l g e m e i n - e p i t h e l b i l d e n d e n Z u s t a n d z u rü c k -
v e r f a l l e n u n d d i e b e g o n n e n e o d e r g a r p e r f e k t g e w o r d e n e E i n s c h n ü r
u n g a n n u l l i e r e n w ü r d e n . Nehmen wir jetzt an , von einem so beschaffenen,
frisch eingeschnürten Darme schnitte jemand das distale, blindgeschlossene Viertel
hinweg: was müßte geschehen? Unter dem Drucke der epithelbildenden Mechanismen
gelangte zunächst die Wunde zum Verschluß. Hierauf ginge von dem neuformierten
blinden Ende der typische „distale“ Reizstoff aus und strömte in regelmäßigem Gefälle
dem des „proximalen“ Stoffes entgegen. Allein die planmäßig berechnete, formativ wirksame
Verschränkung der beiden Reize träte nicht mehr an der Stelle ein, wo der bereits g e bildete
Schnürring liegt, sondern sie fiele weiter proximalwärts, d. h. in das Gebiet des
noch neutralen, konvex gewölbten Zellenmaterials. Hier würde, da alle Blastomere für
unseren formativen Reiz empfänglich sind, die Bildung einer neuen Ringfurche eingeleitet.
Die Zellen der alten aber befänden sich plötzlich außerhalb der kritischen Sphäre, ihr
differenzieller Zustand verschwände, und mit dem Neuerwachen der neutralen Disposition
gruppierten sie sich, wie früher, zum glatten, konvexen Epithel. — So wäre durch U m g
e s t a l t u n g und U m o r d n u n g der Elemente ein zwar verkleinertes, aber typisch-
proportional gegliedertes Abbild des regelrechten Darmes in die Erscheinung getreten,
o h n e d a ß i r g e n d e in a u ß e r e t a tm ä ß i g e r F a k t o r m i t g e w i r k t h ä t t e . Und da
natürlich die Annahme, daß andere, auf noch- viel komplizierteren Formativreizwirkungen beruhende
Geschehnisse sich unter abnormen Bedingungen ebenso verhalten, nichts im W eg e
steht, so öffnet sich hier ein weites Feld von Möglichkeiten, wie scheinbar regulatorische
Selbstverbesserungen auf rein normale Mechanismen zurückgeführt, d. h. aus der- Liste der
wahren Regulationen gestrichen werden könnten.
A ber so heilsam die korrektive Veranlagung der richtenden und formativen Reiz-
vorgänge sich für das Individuum in allen angeführten Fällen erweisen mag: fü r d ie A r t
u n d ih r e E r h a l t u n g stellt sie keinen oder nur einen verschwindend kleinen Vorteil dar.
Denken wir zunächst ah Ascaris. Was hilft dieser Spezies die Fähigkeit ih re r ' Furchungss
tadien, abnorme Störungen des Zellarrangemehts selbsttätig auszugleichen? Derartigen
Störungen, soweit: sie durch mechanischen Eing riff von außen verursacht werden, sind die
gewöhnlichen Ascariseier mit ihrer festen, kugelrunden Schale niemals aüsgesetzt: ein normaler
Ascariskeim, den äußere Gewalt — nach Platzen der Schale — überhaupt erreicht,
ist immer total verloren. Und andererseits fällt die geringe Hoffnung, daß eine aus
in n e r e n Gründen daran entstandene abnorme Konfigurationsstörung sich hie und da nachträglich
rektifizieren könnte, bei einer Spezies, die viele Millionen' gesunder Keime dem Untergänge
opfern muß, ehe Sie einen einzigen bis zur Geschlechtsreife durchbringt, nicht ins
Gewicht. D aß aber gar die Fähigkeit verschmolzener Ovöcyten, eine typisch gebaute Riesenlarve
zu bilden, oder die Zwillingsentwickelung doppelbefruchteter Keime oder die Cyto-
taktische Selbstkorrektur der T-Riesen bei der enormen Seltenheit aller dieser Vorkomm-
Zoologlca. Heft 40.