N e u n t e s K a p i t e l . .
Die Lokalisation der determinierenden Ursachen
im Inneren der Zelle.
W ir haben nunmehr, soweit es erreichbar war, genaue Kenntnis von der Lokalisation
der Formbildungsursachen im A scarisk e im ^^p b is heran an die G r e n z e d e r Z e l le . Wie
aber die Ursachen i n n e r h a l b der Zellen gelagert sind, darüber wissen wir fast noch
nichts. Und doch fordert die sichtbare Komplikation des Zellinneren, d e r d e s k r i p t i v e
G e g e n s a t z z w i s c h e n K e r n u n d p l a sm a t i s c h em Z e l l l e i b zu einer Prüfung dieser
Angelegenheit dringend heraus.
A ls durch die Analyse der Diminution und der rhythmischen Differenzierung zum
ersten Male das Vorhandensein qualitativ ungleicher Zellteilung bei Ascaris erwiesen war,
da ließen wir die Frage, ob die bestimmenden Ursachen im Plasma oder im Kern enthalten
seien, ausdrücklich offen. Bei allen übrigen Formbildungsarten: der Spindelstellung,
dem Teilungsmodus, der Dotter Verschiebung, der Selbstordnung und spezialisierten Selbstgestaltung
der Blastomere la g ein besonders auffälliges Merkmal des deskriptiven Geschehens
in seiner typischen R i c h t u n g zum Gesamtkeim, und es wurde festgestellt, daß
nur das Plasma, nicht der Kern als T rä ge r der richtenden Ursachen in F ra ge kommen
könne. Denn nur die Zellleiber behalten im Wandel der Klüftungs- und Dislokationsvor-
gänge konstante räumliche Beziehungen zueinander b e i; infolgedessen wird jede Richtung,
die sie auf Grund einer inneren Struktur hervorbringen, von der typisch und sichtbar g e ordneten
Nachbarschaft gleichsam reflektiert und gelangt dadurch erst selber zur deskriptiven
Erkennbarkeit. Die Kerne aber sind hierzu nicht geeignet. D a ß sie im Klüftungsprozeß
sich relativ weit voneinander entfernen, machte nichts aus, wenn nur d i e A r t ihrer
Fortbewegung unabänderlich wäre. Statt dessen schwanken und taumeln sie o ft, überschlagen
sich wohl gar und verlieren damit jene räumliche Tradition, jene „Erinnerung“ an
frühere typische Lagebeziehungen, die den auf fester Bahn beweglichen Zellkörpern erhalten
bleibt. Nachdem aber die Fühlung mit der Nachbarschaft einmal unterbrochen ist, würden
die Kerne ohne Hilfe von außen her nie und nimmer zur neuerlichen Anknüpfung typischer
Richtungsverhältnisse befähigt sein.
Allein mit der Festlegung der R ie h tu n g sU r s a c h e n im Protoplasma formbildender
Zellen ist das kausale Problem jener V o rgänge noch keineswegs erschöpft. Nach unserer
Lehre enthält ja jede Zelle nicht nur ein einziges Schichtsystem, sondern eine Anzahl verschiedener,
die an sich in gleichem Maße geeignet sind, als Richtungsmittel in die Formbildung
einzugreifen. Unter diesen w ä h l t d i e Z e l l e d a s j e n i g e a u s , dessen sie sich
wirklich bedient; oder a u c h : verschiedene Blastomere verwenden e in u n d d a s s e l b e
S y s t em in d i f f e r e n t e r Weise. Zum Beispiel orientiert die Zelle P3 ihre Spindel in die
Richtung des medianen Schichtsystems, und eine ihrer beiden Töchter, Pd, folgt ihrem Beispiel
(Fig. Y Y , p.147); die Spindel von D, der ändern Tochter aber liegt transversal, reagiert also
mit Querstellung auf das mediane Richtungsmittel; oder, wenn man will: sie nimmt von der
medianen Schichtung überhaupt keine Notiz und folgt vielmehr dem transversalen System,
das ebenfalls in allen Zellen der unteren Familie enthalten ist. Offenbar muß die Zelle D,
die aus internen Gründen so eigenwillig vorgeht, von ihrer Schwester und Mutter in irgend
einer A r t verschieden sein. Und da eine jede Zelle des Ascariskeimes, die sich in vorgeschriebener
Richtung teilen, oder eine sonstige typisch gerichtete Leistung vollbringen soll,
der gleichen Notwendigkeit selbständiger Auswahl gegenübersteht, so sehen wir, daß zur
Erledigung aller dieser Aufgaben viel mehr gehört, als unsere allgemeinen, das Plasma
durchsetzenden Schichtsysteme. W ir brauchen fü r j e d e e in z e ln e a n d e n g e r i c h t e t e n
F o rm b i ld u n g s v o r g ä n g e n b e t e i l i g t e Z e l l e e in e b e s o n d e r e , c h e m i s c h o d e r
s t r u k t u r e l l c h a r a k t e r i s i e r t e B e s c h a f f e n h e i t , die ihr durch qualitativ ungleiche Zellteilung
übermittelt wird. -Wo aber d i e s e Differenzierung gelegen ist, das wissen wir
ebensowenig, als wir den Sitz der Gründe kennen, die den Rhythmus und die Diminution
bestimmen. Das Problem der inneren Lokalisation ist also für a l l e Arten der Formbildung
und für den ganzen Stammbaum noch ungelöst.
Dennoch entschließe ich mich nur zögernd, die Analyse, die bis an die Grenze der
Zelle mit hinreichender Sicherheit durchgeführt werden konnte, noch auf die F ra ge nach
der in n e r e n Lokalisation, nach dem Vorrange des Kernes oder Zellleibes auszudehnen.
Dehn alles, was mir von Tatsachen der typischen wie abnormen Ascaris-Entwickelung
durch fremde und eigene Studien bekannt geworden ist, reicht leider zu einer wirklichen
L ö s u n g des wichtigen und gerade in neuester Zeit wieder so aktuell gewordenen Problems
nicht aus. Mit einer halben Sache die Arbeit abzuschließen, macht aber keine Freude.
Ich sage mir jedoch, daß das bis jetzt bekannte Material analytisch verwendbarer
Tatsachen immerhin so umfangreich und vielseitig ist, wie bei nur wenigen anderen Tierformen,
die seit langer Zeit im Mittelpunkte des entwickelungsmechanischen Interesses
stehen; und daß auf eine wesentliche Vermehrung dieses Materials in absehbarer Zeit doch
nicht gehofft werden kann. Also möge wenigstens klargestellt sein, in welcher Richtung
bei Ascaris zurzeit die größte Wahrscheinlichkeit liegt.
Außerdem gibt die Analyse dieser Frage Gelegenheit, eine Reihe a b n o rm e r u n d
d e n n o c h in t y p i s c h e m S i n n e w i r k e n d e r Geschehnisse aus der V o r g e s c h i c h t e
teratologischer Keime näher zu beleuchten und so zu zeigen, daß man auch diese zum Teil
höchst seltsamen Dinge nicht als regulatorische Extraleistungen betrachten darf; wodurch
unser ablehnendes Urteil über die Rolle der Regulation in der Ascarisontogenese, das bisher
nur auf Vorgänge der c e l lu l ä r e n Entwickelung begründet war, erst seine Abrundung
und völlig sichere Basis erhalten wird.
Und ganz besonders mußte mich zur Veröffentlichung der Gedanken, die ich mir
über die innere Lokalisation gemacht habe, der Umstand bestimmen, daß ein sehr kompetenter
Forscher: B o v e r i in zwei kleinen Schriften (1894a und b) die Lösung der Frage
bereits unternommen und, wie er glaubt, zugunsten des Z e l l k ö r p e r s entschieden hat.
Diesem Urteile aber stimme ich — auf Grund von Gesichtspunkten, die in den voraus-
Zoologloa. Heft 40. 34