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Und nun das Endurteil. Es gilt zu entscheiden, inwieweit der von R o u x geschaffene
Beg riff der S e l b s t d i f f e r e n z i e r u n g für Ascaris zutrifft. Hierin liegt ein doppeltes
Problem. Einerseits handelt es sich um die F ra ge der Unabhängigkeit oder Abhängigkeit
des g a n z e n s i c h e n tw i c k e ln d e n E i e s von seiner Außenwelt. Zweitens aber soll für
den engeren und stetig sich verkleinernden Bereich der F u r c h u n g s z e l l e n , der Äste und
Zweige des genealogischen Stammbaums bis zum obersten Wipfel angegeben werden, ob
diese Teilgebilde „sich selbst differenzieren“ oder in irgend einem Grade von ih r e r Umgebung
abhängig sind.
Verbände sich mit dem Begriffe „Selbstdifferenzierung“ , wie der Wortlaut vielleicht,
vermuten lä ß t, die Forderung absoluter Beziehungslosigkeit zur Außenwelt, so ist ohne
weiteres klar, daß unser Spruch in beiden Einzelfragen nur negativ lauten könnte. Zwar
gehen die Blastomere in der Mehrzahl der fü r sie Vorgeschriebenen Leistungen auf eigene
Faust zu W e rk e ; ihre Grundgestalt, die Zeit und besondere A r t ihrer Mitose haben mit
dem Zustande und dem Vorhandensein der "Umgebung nichts zu tun, und wenn die Zelle
an einer Gabelung des morphogenetischen Stammbaumes gelegen ist, determiniert sie durch
qualitativ ungleiche Teilung selbständig das divergente Schicksal ihrer beiden Tochterzeilen.
A ber andererseits rechnet jede einzelne Zelle wie auch der ganze Keim mit Reizen und
Vorbedingungen der Außenwelt. A n den Vorgängen der chemotaktisch vermittelten Zellenordnung
sind alle Blastomere beteiligt; mechanische Massenkorrelation unterstützt gewisse
typische Gleitbewegungen und bestimmt in weitem Umfange das Detail der polyedrischen
Zellgestalt; thermische und chemische Zustände des Mediums sind Vorbedingungen für das
E i wie für seine Zellen. Und daß sogar der Gesämtkeim einen oder den anderen zeitlich
auslösenden Reiz von seiner Außenwelt beziehen mag, mußten wir bis zum Beweise des
Gegenteils ausdrücklich als denkbar anerkennen.
Allein in derartig überexklusivem Sinne ist „Selbstdifferenzierung“ nicht gemeint. Man
kann gewiß nicht verlangen, daß ein E i oder eine Zelle in ihren gestaltenden oder bewegenden
Funktionen unabhängiger von der Umgebung sei, a l s i r g e n d e in f r e i l e b e n d e s
G e s c h ö p f . E s gibt kein organisches Wesen, das nicht, um leben zu können, an thermische
und chemische Vorbedingungen gebunden wäre, das nicht zum Schwimmen und Laufen
mechanischer Massenkorrelation bedürfte, keines, das nicht in irgend einem Grade von
äußeren Richtungsreizen planmäßig gelenkt würde. W ie aber niemand bestreitet, daß ein
solcher Organismus selber lebt, selber läuft, selber die Richtung einschlägt auf das ihm
adäquate Orientierungsmittel, so dürfen wir auch sagen: eine Zelle, die außer den allgemeinen
Vorbedingungen des Lebens lediglich Massenkorrelation und Richtungsreiz für ihre
Bewegung in Anspruch nimmt, „differenziert sich selber.“ Ein solcher Ausdruck würde
sogar dann noch berechtigt sein, wenn auch die Spindelstellung, der Teilungsmodus, die
aktive Selbstgestaltung der Zelle durch äußere Reize typisch gerichtet würde, oder die A b hängigkeit
von den mechanischen Vorbedingungen empfindlicher wäre, oder zeitliche Auslösungen
vielfache Verwendung fänden. A b e r das ist ga r nicht der F a ll: Ascaris hat für
alle diese Dinge lieber innere Strukturen angeschafft; Wechselwirkung zwischen ihren
Zellen benutzt sie pur, wo e§ schlechterdings nicht zu umgehen war. —-
A lso : räumlich oder zeitlich orientierende Reize sowie Vorbedingungen sind für die
Fra ge der Selbstdifferenzierung durchaus bedeutungslos. Worauf es ankommt, ist lediglich,
ob dem befruchteten E i und jeder seiner Furchungszellen die Marschroute völlig gebunden,
eine e i n z i g e Art des Verhaltens, eventuell der formbildenden Reaktionsfähigkeit auf
adäquaten Reiz hin zugewiesen ist; ob nicht etwa formative Reize die Zelle in diese oder
jene z u r A u s w a h l g e s t e l l t e Entwickelungsbahn drängen, oder gär unvorhergesehene
äußere Umstände darüber entscheiden, was werden soll.
Bei Ascaris bleibt den einzelnen Blastomeren so wenig eine Wahl als dem Ei. Keine
Zelle leistet je etwas anderes oder mehr als das, wozu sie auf Grund des normalen Programmes
berufen ist. Regulatorische Extraleistungen der in abnorme Verhältnisse gebrachten
Furchungszellen sind bei Ascaris unbekannt.
D i e c e l l u l ä r e E n t w i c k e l u n g v o n A s c a r i s i s t e in F a l l v o n a u s g e -
p r ä g t e s t e r S e l b s t d i f f e r e n z i e r u n g .