A c h t e s K a p i t e l .
Zusammenfassung und Abschluss der cellularen
Entwicklungsmechanik.
Nachdem in Einzelanalysen die sämtlichen formbildenden Geschehensarten auf ihre
passive oder aktive Natur und auf die Lokalisation ihrer Ursachen außerhalb oder innerhalb
der betreffenden Zellen untersucht worden sind, soll ein Gesamtbild von der Kausalität der
Ascarisentwickelung, so gut es zurzeit gelingt, entworfen werden. Insbesondere gehen wir
auf die bisher nur hie und da berührte F ra g e der „Vorbedingungen“ ein wenig genauer
ein. Zum Schlüsse fällt dann die Entscheidung, ob und in welchem Grade die Ontogenese
von Ascaris Selbstdifferenzierung genannt zu werden verdient.
1.
Gruppieren wir zunächst unser Material nach Maßgabe der am Beginn des Analytischen
Teiles begründeten ökonomischen Stufenleiter, so gibt es, wie wir sahen, keine sparsamere
und einfachere Denkmöglichkeit als die, daß alle oder einzelne Geschehnisse der
Formbildung durch D r u c k - o d e r Z u g v e r h ä l t n i s s e , d i e a u s d e r s i c h t b a r v o r h
a n d e n e n K o m p l ik a t io n d e s K e im e s h e r z u l e i t e n s in d , passiv verursacht werden.
Allein unser pflichtmäßig wiederholter Versuch, mit diesem billigsten Erklärungsmittel auszukommen,
schlug fast in jeder Einzelfrage fehl. Der Dottergehalt, der als mechanischer
Faktor im I n n e r e n der Zellen auf manche Formbildungsvorgänge, z .B . den Rhythmus, die
Teilungsrichtung, die relative Zellengröße, hätte einwirken können, zeigt sich bei näherer
Betrachtung zu wenig und nicht so differenziert, daß er den Anforderungen irgend einer
Kategorie genügte. Obendrein unterliegt die Dotterverteilung starken Schwankungen von
E i zu Ei, kann also, wie früher dargelegt wurde, als variabler Faktor nicht für konstante
Geschehnisse verantwortlich sein. D aß andererseits mechanische Kräfte; die eine Zelle v o n
a u ß e n , d. h. von der Schale oder den Nachbarzellen treffen könnten, weder den Rhythmus
noch die Diminution, weder Spindelstellung, Teilungsmodus, Dotterverschiebung, noch irgend
eine Art der cytotaktischen Geschehnisse oder die Ausbildung einer Spezialgestalt verursachen,
ging aus dem Studium der T-Riesen mit Sicherheit hervor. Wo die Anordnung
der Blastomere und ihr Verhältnis zur Schale stark verändert sind, verschwinden natürlich
auch die der normalen Ontogenesis eigentümlichen mechanischen Wirkungsmöglichkeiten;
dessenungeachtet sind alle die genannten Formbildungsvorgänge bei den T-Riesen vorschriftsmäßig
wiedergekehrt. — Einzig und allein gewisse Details der Z e l l g e s t a l t machen eine
A usnahme: die Ringwülste am Rande der freien Oberflächen und die Polyedrie mit ihren
besonderen, für jede einzelne Zelle typischen Facetten und Kanten werden rein passiv durch
den Gegendruck der benachbarten Blastomere bewirkt, denn sie ändern sich je nach der
Form der Nachbarschaft und verschwinden im Zustande der Isolation. Aber gerade diese
Geschehnisse sind so unbedeutend, daß sie den Namen der Formbildung kaum verdienen.
Das wesentliche am ganzen Problem der Zellgestalt liegt in dem typisch geregelten A u ftreten
der isometrischen, d. h. kugeligen Grundform oder spezialisierter Anisometrie. Diese
aber erweisen sich unter veränderten mechanischen Bedingungen als konstant, werden also
keinesfalls durch äußeren Druck oder Zug passiv herbeigeführt.
A l l e V o r g ä n g e d e r e i g e n t l i c h e n c e l l u l ä r e n F o r m b i l d u n g g e s c h e h e n
d em n a c h im A s c a r i s k e im „ a k t i v “ . Ihr Eintritt und Ablauf beruht mindestens zu
einem Teile auf Leistungen der lebendigen Substanz, deren mechanische Natur zwar keineswegs
geleugnet wird, die aber infolge ihrer Feinheit nicht kontrollierbar und sehr wahrscheinlich
durch ihre enorme Komplikation unserem Verständnis noch auf lange Zeit verschlossen
sind.
Nun bliebe der zu fordernde Aufwand an unsichtbaren Strukturen verhältnismäßig
gering, wenn sich verteidigen ließe, daß alle Zellen von Haus aus gleichen Bau und gleiche
Befähigung zu aktiv formbildender Funktion besäßen, ih r t y p i s c h d i f f e r e n t e s V e r h
a l t e n a b e r d u r c h „ f o rm a t i v e R e i z e “ v e r a n l a ß t w ü r d e ; oder daß der Eingriff
formativer Reize wenigstens für manche F älle vorgesehen sei; Als Lieferantin der hierzu
benötigten typisch lokalisierten Reize stände die sichtbare, von Stufe zu Stufe sich steigernde
Mannigfaltigkeit des Keimes bereit. Auch diese F ra ge beantwortet unser analytisches
Material, soweit1,es zureicht, verneinend. Die normale Konfiguration d e s G a n z e n liefert
offenbar gar keine derartigen Reize, denn sie darf ja , ohne daß die rhythmische oder
sonstige Spezifikation des Klüftungsverkaufs, die aktive Regelung von Lage- und Gestaltverhältnissen
darunter litte, verschwinden. U nd da die Geschichte der T-Riesen die gleiche
Bedeutungslosigkeit auch für nicht wenige N a c h b a r s c h a f t s v e r h ä l t n i s s e in e n g e r e m
K r e i s l e ergeben hat, so halte ich die völlige Ausschließung formativer Reize aus der
Kausalität der Ascarisontogenese für erlaubt. E s folgt hieraus, daß jede im typischen Programm
der Formbildung mit einer besonderen A ufgabe betraute Zelle mitsamt den Gründen
ihres Verhaltens geboren wird. Das heißt: D i e D i f f e r e n z i e r u n g d e s A s c a r i s k e im e s
b e r u h t a u f q u a l i t a t i v u n g l e i c h e r Z e l l t e i l u n g .
Bei dieser für den Komplikationsetat bedenklichen Sachlage winkt, noch die Möglichkeit
zu Ersparnissen, wenn. es gelingt, den z e it lich .: b e s t im m t e n E i n t r i t t formbildender
Prozesse, besonders aber ihr t y p i s c h e s G e r i c h t e t s e i n auf R e i z e v o n d e r U m g e b u n g
h e r zurückzuführen. Auch hier zumeist Enttäuschung. D aß in den jungen Stadien der
Ascarisontogenese zeitliche Auslösung keine Rolle spielt, sondern jede einzelne Zelle für
pünktliche Einhaltung aller ihrer Termine selber zu sorgen hat, läßt schon der deskriptive
Hergang vermuten, und durch die T-Riesen, bei denen die Chronologie der Ereignisse ohne
Störung wiederkehrt, wird es vollauf bestätigt. Es mag aber sein, daß ein oder der andere
Prozeß der späteren Lebensgeschichte auf zeitliche Orientierung durch äußere Reize angewiesen
is t : z. B. die Häutungen oder die nach längerer Pause neu erwachende Vermehrungstätigkeit
der Genitalanlage. — Fast befremdlich wirkt der durch die T Riesen erbrachte
Nachweis, daß bei der Mehrzahl derjenigen Geschehensarten, bei denen überhaupt eine
„Richtung“ in Frage kommt, auf die so ökonomische Verwendung äußerer Richtungsreize