Davon aber war bisher keine Rede. Nach unserer vorhin dargelegten, auf Sparsamkeit g e gründeten
Meinung hat die vom E i her komplet überlieferte Horizontalschichtung im
Stadium V I I I noch nichts zu tun. Und wenn das zutrifft, dann liegt die Aufklärung . der
in Fra ge stehenden Regulation wieder in weitem Felde. Bestenfalls müßten wir uns zu der
Idee bequemen, daß der im typischen Stadium V I I I zwar schon vorhandene, aber schlummernde
chemotaktische Apparat bei unserem Riesen eigens dem guten Zweck zuliebe vorzeitig
aktiviert worden sei.
In solcher Not ist uns jede Hilfe recht, auch wenn wir sie von etwas weit her
zitieren müssen. Wir erinnern uns aus dem Kapitel über die Spindelstellung, daß die
zw e i M u t t e r z e l l e n d e r v e n t r a l e n V i e r e r g r u p p e , die im Stadium IV den Stamm
der T-Figur bildeten, ihr gegenseitiges La g e Verhältnis ganz unverrückt so, wie es aus der
Mitose hervorgegangen war, beibehalten: die Kontaktfacette EM S t | P2 ist am fertig orientierten
Rhombus genau dieselbe, wie bei der Geburt. Für die gewöhnlichen T-Riesen gilt
entsprechendes; und nur der Musterriese vom zweiten Typus machte eine Ausnahme: hier
waren die beiden Blastomere und zwar genau in der Richtung der ventralen Medianebene
S|l gegeneinander verschoben worden. Nun haben wir freilich in unserer Übersicht
der Selbstordnungsvorgänge das Verharren der Zellen EM S t und P 2 in ihrer gegenseitigen
primär-axialen Lagebeziehung nicht als eine aktive Leistung dargestellt, — aber auch nicht
behauptet, dasselbe geschehe passiv: ich glaubte aus technischen Gründen auf die Berücksichtigung
dieses minder klaren Falles damals verzichten zu sollen. Jetzt aber blicken wir
das wohlbekannte Geschehnis zum ersten Mal interessierter an, und wir erkennen mit ziemlicher
Sicherheit seine aktive Natur. Würde bei der Schwenkung des T-Stammes die Zelle P2
von ihrer sich drehenden und in der (ventralen) „Medianebene“ krümmenden oberen Schwester
v ö l l i g f r e i durch den Schalenraum transportiert, so ließe sich verteidigen, daß ein besonderer
Erklärungsgrund für das Fortbestehen des angeborenen Kontaktverhältnisses nicht nötig sei;
ein bischen Adhäsion reichte wohl aus, um die Zellen auf eine so kurze Zeit zusammenzuhalten.
Allein in Wirklichkeit führt der Transport schon im normalen, kugelrunden E i
dicht an der Schalenwand dahin und dürfte deshalb, besonders beim ersten Einsetzen der
Dislokation, mit einem nicht unerheblichen Reibungswiderstande zu rechnen haben. Bei
den echten, d. h. normal entwickelten Riesen mit sanduhrförmiger Doppelschale bedingt die
mittlere Einschnürung sogar ein grobes mechanisches Hindernis, das unter starkem Druck,
wie aus der Deformation der Zellen hervorgeht, aber ohne Preisgabe des primären Kontaktverhältnisses
überwunden wird. In der Entstehungsgeschichte der T-Riesen erweist sich
andererseits die Festigkeit des schwesterlichen Zusammenhanges als g roß genug, um die
aktive Drehung, nach der die obere Zelle strebt, total zu vereiteln, sobald die untere am
Mitkommen gehindert ist. Und bei dem „regulatorischen“ Musterriesen führte die Zelle EMSt
erst nach langer Bemühung und gleichsam ruckweise, als durchbräche sie gewaltsam eine
Fessel, ihre mediane Vierteldrehung aus. Solche Hartnäckigkeit unter den schwierigsten
Umständen wäre^ wenn nur die Adhäsion der Zellen ihren primären Zusammenhang verbürgte,
kaum zu begreifen; denn alle sonstige Erfahrung weist darauf hin, daß die Gleitfähigkeit
der Ascaris-Blastomere nur in geringem Maße durch adhäsiven Widerstand be^
einträchtigt wird. A l s o m u ß d a s V e r h a r r e n d e r Z e l l e n E M S t u n d P2 w o h l e in e
a k t i v s e lb s t o r d n e n d e L e i s t u n g s e in . -- Nun ist von vornherein selbstverständlich,
daß das paramediane Schichtsystem der Ventralfamilie, das nachgewiesenermaßen bereits zu
dieser frühen Zeit in Tätigkeit ist, die Aufrechterhaltung des primär-medianen Verhältnisses
unserer Zellen übernimmt. A ber dieser Mechanismus genügt nur für eine Hälfte, und zwar
die kleinere, von dem, was wir brauchen. Denn da die Schwenkung des T-Stammes zuerst
und am stärksten in der Richtung der ventralen Medianebene vor sich geht, so muß vor
allem gesorgt sein, daß Gleitbewegungen innerhalb dieser gefährdeten Ebene verhindert
werden. Hierzu eignet sich am besten ein chemotaktisch koordiniertes Zönensystem, das
q u e r zur Medianebene und anfangs aufrecht gelagert ist, dann aber allmählich in horizontale
Stellung übergeht; mit anderen Worten d a s w o h lb e k a n n t e , a u f s p ä t e r e n S t u f e n
z u r D u r c h f ü h r u n g d e r V e r s e n k u n g s p r o z e s s e b e r u f e n e „ H o r i z o n t a l s y s t e m “ .
Allein der Widerstand dieses zweiten Mechanismus würde nicht nach beiden Richtungen,
aufwärts wie abwärts der Mittelebene, gleichmäßig beansprucht sein. Die drohende Gefahr
ist ja nur die, daß beim Transport nach oben, besonders am Anfänge desselben, die Zelle
P2 von ihrer sich krümmenden Schwester v e n t r a lw ä r t s a b g e s t r e i f t werden könnte.
A lso genügt es, wenn der horizontale Mechanismus ein Gleiten der Zelle P2 nach „unten“
unmöglich macht. Und falls dabei an Komplikation gespart werden kann, so mögen wir
annehmen, daß die selbstordnende „Horizontalschichtung“ der Zellen EM St und P2 vermöge
irgend einer quantitativen oder qualitativen Verschiedenheit ihrer Zonen mediane A b w ä r t s-
d r e h u n g m i t E n e r g i e v e r h in d e r t , Aufwärtsdrehungen dagegen mehr oder minder
widerstandslos erlaubt; etwa wie die Beweglichkeit des Arms im Ellbogengelenk durch die
Sperrvorrichtung des Olecranon ulnae einseitig aufgehoben wird.
Dieser ganze Exkurs war jedoch, wie uns nun wieder einfällt, nur Mittel zum Zweck.
Wir suchten nach Anhaltspunkten für eine Begründung der Hypothese, daß die vierzeilige
Ventralfamilie im typischen Stadium V I I I bereits der Schauplatz einer aktiv selbstordnenden
Tätigkeit auf Grund der Horizontalschichtung sei. Und ich denke, wir haben sie g e funden.
Wenn das horizontale Zonensystem schon auf der zweizeiligen Stufe der Ventralfamilie
und wiederum auf der achtzeiligen funktioniert, so wäre es vielleicht nicht einmal
ökonomisch, den Apparat für die dazwischen liegende Zeit der vierzelligen Stufe extra, d. h.
durch ein besonderes Geschehnis, außer Dienst zu stellen. Aber noch mehr. Wir finden
auf einmal, daß einr chemotaktischer Mechanismus nach Art eines Sperrgelenkes, wie er
auf Grund wirklichen Bedarfs für die Zellen EM St und P 2 erschlossen wurde, a u c h
fü r d ie v i e r z e i l i g e V e n t r a l f a m i l i e n i c h t u n b e d in g t ü b e r f l ü s s i g w ä r e . E r lie ß e
das dorsale Umkippen des hinteren Zellenpaares, das in der normalen Entwickelung ge schieht
und geschehen soll, frei, aber er verhinderte jedes Ausweichen oder Gleiten der
Blastomere nach unten hin; und bei gewissen rhythmischen Variationen, wenn die Ventral-
familie sich sehr frühzeitig teilt und ihr Kontakt mit dem Ektoderm beschränkter ist als
sonst, könnte eine ventrale Sperrung recht wohl von Nutzen sein. Im Lichte einer solchen
Auffassung wird auch die Tatsache, daß bei so vielen T-Riesen die viergliedrige Ventralfamilie
ihr schnurgerad-axiale Säulenform lange Zeit beibehält, erst recht begreiflich: hier
hält die Attraktionskraft der Sperr-Zone, da die komplexbildende Wechselwirkung mit dem
Ektoderm nicht zur Geltung kommt, die vier Zellen in ihrer angeborenen La ge erfolgreich
fest.