Einzelleben treu gebliebene Geschlecht der Flagellaten befähigt war, durch Anpassung
an neue Existenzbedingungen die höheren Grade der inneren Anisotropie hervorzubringen
, so mußte wohl die gleiche Komplikätionsstufe den aus derselben Wurzel entsprossenen,
jedoch zum Kommunismus übergegangenen Stammesverwandten, den Metazoenzellen,
erreichbar s e in : kein Wunder, daß Blastomere von Ascaris mit disymmetrischer oder
asymmetrischer Plasmadifferenzierung ausgerüstet sind. — Nur die enorme Höhe der inneren
Komplikation, die bei der Selbstgestaltung mancher Gewebezellen von Ascaris sich offenbart,
überschreitet den Rahmen dessen, was wir an Flagellaten kennen. A b e r auch darin liegt
keine prinzipielle Schwierigkeit. A n einer noch tieferen Stelle des Gesamt-Stammbaumes
hängt auch die genealogische Reihe d e r I n f u s o r i e n mit der der Flagellaten, d. h. der
.Metazoen zusammen. Und was dieser ältere, solitär gebliebene Seitenzweig nach Maßgabe
seiner physischen Natur an Komplikation hervorzubringen vermochte, bedeutet auch innerhalb
der Hauptlinie keine Unmöglichkeit. E s ist aber gewiß, daß kaum irgend eine Metazoenzelle,
jedenfalls keine von Ascaris in ihrer Selbstgestaltung die hohe Stufe eines Stentor
oder einer Vorticella erreicht oder ga r überschreitet.
So dient uns denn die Anwendung des phylogenetischen Gesichtspunktes auf die
Entwickelungsmechanik von Ascaris zur ökonomischen Beruhigung. W ir finden jetzt, daß
dasjenige Maß von innerer Komplikation, das wir den Ascariszellen auf Grund ihrer Selbstg
es ta ltung,. Selbstordnung, Teilungsrichtung etc. zugestehen mußten, und das uns anfangs
so gefährlich g roß erschien,-in Wirklichkeit g a r nichts besonderes ist. Freilebende Protozoen
von heutzutage, die Blutsverwandten unserer Zellen, besitzen ganz bestimmt das gleiche
Maß und mehr, und schon die flagellatenähnlichen Vorfahren des Metazoenstammes müssen
einen ansehnlichen T e il davon enthalten haben. Wenn aber die Vorstellung, daß der
Komplikationsgrad der einzelligen Ahnen, soweit er dauernd nützlich war, auf die Zellen
der Blastaea übergegangen sei, als selbstverständlich bezeichnet werden darf, so ist die
andere: d a ß im B e d a r f s f ä l l e d i e Z e l l e n d e r h ö h e r e n M e t a z o e n , s i e h w e i t e r h
in b i s zu d e r j e n i g e n S t u f e v e r v o l l k o m m n e t h a b e n , d e r e n E r r e i c h b a r k e i t
d u r c h g e n e a l o g i s c h e S e i t e n z w e i g e , d i e l e b e n d e n F l a g e l l a t e n u n d I n fu s o r i e n ,
a d o e u lo s d em o n s t r i e r t w i r d , zum m in d e s t e n s e h r w a h r s c h e in l i c h .
3.
Allein diese nachträgliche Empfehlung von Hypothesen, für die wir uns nach bestem
Wissen und Gewissen ohnehin entscheiden mußten, war keineswegs unser Ziel. W ir hofften
vielmehr, an der Hand der stammesgeschichtlichen Betrachtung einen W e g zü finden, der
von der relativ einfachen, mechanistisch deutbaren Ascarisontogenese zu rätselhaften Geschehnissen,
wie etwa die S e l b s t g l i e d e r u n g d e s E c h in id e n d a rm e s , hinüberführen
sollte. Nur dieser Hoffnung zuliebe wurde die auf steigende R e ih e der Zellkomplikation bis
an die Grenze des bekannten. Gebietes stammesgeschichtlich legitimiert; sehen wir jetzt zü,
ob und wie weit die Reihe sich in das unbekannte hinein verlängern läßt. .
Zunächst: worin besteht, auf welche. Einzelfächer der cellulären Formbildung erstreckt
sich das problematische jener Vorgänge. Richten wir unsere Aufmerksamkeit .speziell .auf
den klassischen Fall des Echinidendarmes, so charakterisiert sich das Geschehnis im ganzen
als F a l t u n g e in e s v i e l z e l l i g e n E p i t h e l s ! , — eine Methode der Formbildung, die bei
Ascaris wenig oder gar nicht vertreten, bei fremden Geschöpfen aber bekanntlich von allerg
rößter Bedeutung ist. In einer früheren Zeit hielt man diese A r t des Entwickelungsgeschehens
allgemein für passiv, für die mechanische Folge seitlich ansetzender Druckvorgänge.
E s ist jedoch gewiß, daß Faltungen in der Regel durch aktive Selbstgestaltung und
Selbstordnung der beteiligten Zellen hervorgebracht werden f z u r S t r a s s e n 1898a p. 155).
Und sicherlich gilt dies auch für die von äußeren Umständen so unabhängige Gliederung
des jungen Echinidendarmes. Während alle die Zellen, die das Gewölbe des sackförmigen
Urdarmes zusammensetzen, nach außen verdickt, nach innen verschmälert sind, tritt zu ge gebener
Zeit in ringförmigen, bestimmt gelagerten Bezirken eine neue Zellform auf: das
dickere Ende wird e in w ä r t s verlegt. Hierdurch verwandelt sich an der betreffenden Stelle
die konvexe Wölbung des Epithels in eine konkave. Verschärft sich die umgekehrtkeilförmige
Deformation der Blastomere, und treten vielleicht noch Änderungen ihres cyto-
taktischen Verhaltens hinzu, so wird eine mehr oder minder tiefe und scharf markierte
„Einschnürung“ zustande kommen. — Nun ist offenbar der Komplikationsgrad der hierbei
in Szene gehenden formbildnerischen Einzelleistüngen an sich durchaus kein besonders
h o h e r : mehr als ungleichpolig-axiale oder etwa disymmetrische Anisotropie der Zellen würde
zu diesen Vorgängen keilförmiger Selbstgestaltung und einfacher Selbstordnung nicht g e braucht.
A b e r das neue und den Verhältnissen der Ascarisentwickelung gegenüber enorm
komplizierte besteht darin, daß nicht, wie es dort geschieht, einzelne, genealogisch genau
bestimmte Zellen durch erbungleiche Teilung in den Besitz der entscheidenden Strukturen
und Mechanismen gelangen, sondern auf einer gewissen Altersstufe des Urdarmepithels
j e d e Z e l l e b e f ä h i g t i s t , d u r c h d i f f e r e n z i e l l e S e l b s t g e s t a l t u n g u n d S e l b s t o
r d n u n g a n d e n F a l t u n g s p r o z e s s e n t e i l z u n e h m e n , d a f e r n d ie Z e l l e in d em
b e t r e f f e n d e n r i n g f ö r m i g e n B e z i r k e l i e g t . D i e S i t u a t i o n a n e i n e r b e s
o n d e r e n , d em G a n z e n g e g e n ü b e r g e o m e t r i i^ h C h a r a k t e r i s i e r t e n S t e l l e
d e s U r d a rm e s w i r k t a l s o in d ie s em F a l l e a l s D i f f e r e n z i e r u n g s g r u n d ! Unsere
A ufgabe aber wäre, zu prüfen, ob es möglich ist, die seltsame Befähigung der Blastomere
als Resultat einer kontinuierlichen Fortentwickelung ererbter Protozoeneigenschaften anzusehen,
oder ob. hier wirklich, wie D r i e s c h es will, etwas prinzipiell neues und mechanistisch
nicht erklärbares uns entgegentritt.
Man erkennt zunächst, daß der r e a k t i v e Bestandteil des Geschehens, also die
Fähigkeit gewisser Metazoenzellen, sich je nach den Umständen in zwei oder mehr verschiedenen
Arten des Verhaltens zu produzieren, durchaus keine Errungenschaft ist, die
etwa den Protozoen fehlte. Im Gegenteil: wenn wir die Ascariszellen mit Protozoen verglichen,
blieb gerade in diesem Punkte ein Minus auf seiten des Metazoons. Bei Ascaris
ist die Betätigung der Zelle stereotyp; einzellige Tiere aber sind niemals nur auf eine einzige
Melodie, wie • eine Spieldose, eingerichtet, sondern halten für eine Anzahl besonderer Reize
ebenso viele zweckmäßige Reaktionsweisen bereit. Vermochte doch J e n n in g s (1904 p. 227)
selbst bei Amöben nicht weniger als dreierlei grundverschiedene Antwortsbewegungen festzustellen.
Dann aber brauchen wir gar nicht zu fragen, ob etwa die mehrfache Reaktionsfähigkeit
der Echinidenzellen direkt auf diejenige der Flagellaten zurückgeht, oder aber,
nachdem sie inzwischen verloren war, neuerdings wieder eingeführt wurde. Sondern die
Zoologlca. Heft 40. 40