
Während die bis etwa zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bekannten Bntomostraken
meist litorale oder hemipelagische Tiere waren, und die Fauna der freien, uferfernen Zone der großen
Binnenseen nur in Bruchstücken bekannt war, erschloß sieh jetzt erst einer Reihe von Forschern
wie P. E. Müller, Sars, Leydig, Weismann u. a. der ganze ungeahnte Formenreichtum der eulimneti-
sehen Organismenwelt, des Süßwasserplanktons.
Neben dem Genus Daphne ( = Daphnia aut.) war es hier vor allem das Genus Bosmma, in dem
man auf eine kaum zu bewältigende Mannigfaltigkeit von Formen stieß. 1857 entdeckte W. Baird
in Bosmina coregoni, die er im Magen von Coregonus Willughbii in Lochmaben Castle Loch (l)umiries-
shire) fand, die erste eulimnctische Bosminenform, die den Typus einer ganz neuen Formengruppe
des Genus Bosmma darstellt, und in den folgenden Dezennien wurde noch eine ganz erstaunlich
große Anzahl neuer eulimnetischer Bosminenformen beschrieben.
Ein ungeheures Anschwellen: der Arten und Varietäten dieses Genus, das die Systematik
desselben außerordentlich erschwerte, war das Resultat. Noch verwirrter wurde die Systematik
des Genus Bosmma durch folgenden Umstand. „Genau mit schon beschriebenen übereinstimmende
Tiere fand man fast nirgends und, um nicht alles, neu beschreiben zu müssen, identifizierte man
falsch.“ 1) Eine Revision war bei diesem zerfahrenen Zustande, der Systematik vonnöten.
Auf der anderen Seite führte aber das Studium dieser Fülle von Formen zur Kenntnis der
enormen Alters-, individuellen, lokalen und temporalen Variation der Bosminen, auf Grund deren
man viele, bisher selbständige Arten als bloße unselbständige Formen oder Zustände anderer Arten
erkannte. Und weiterhin wurden immer mehr Formen zutage gefördert, welche die diagnostischen
Schranken, die zwischen den alten Formen bestanden hatten, beseitigten. Die Folge hiervon war,
daß sich viele Systematiker zu einer mehr oder weniger weitgehenden Zusammenziehung der alten
Arten veranlaßt sahen, da dieselben lückenlos ineinander übergingen. Den wichtigsten. Schritt in
dieser Richtung, der Reduktion der Arten, ta t Burckhardt (’00,1), der sämtliche bis 1900 (nach
Burckhardt: 56) bekannten Bosminenformen auf nur zwei Arten: Bosmina longwostnsund Bosmina
coregoni verteilte. Burckhardt machte auch den ersten, erfolgreichen Versuch einer Revision des
Genus Bosmina, indem er die Mehrzahl der vorhandenen Bosimwa-Diagnosen auf den systematischen
Wert der von ihnen benutzten diagnostischen Merkmale hin einer kritischen Prüfung unterwarf.
Fernerhin wies Burckhardt nach, daß die große Menge von Formen, die er in seine zwei Arten ein-
bezog,'sich innerhalb dieser Arten zu lückenlosen Formenreihen und Formenketten aneinanderfugen
lassen, und er ta t schließlich den weiteren Schritt vorwärts: er versuchte die Konstruktion des
lückenlosen Stammbaumes, wenigstens der Schweizer Formen von Bosmina coregoni. Die Notwendigkeit
zu einem solchen Vorgehen liegt — nach Döderlein*) — dann vor, „wenn sich bei genauer Prüfung
des Materials die Unmöglichkeit herausstellt, die bisher angenommenen Arten als solche aufrecht
zu erhalten, da sie ineinander übergehen. Dann entstehen in dem Wunsche, das sonst unvermeidliche
Chaos zu verhüten, die Versuche, die einzelnen Formen in natürlicher Weise aneinander zu reihen
bis zur Konstruktion des lückenlosen Stammbaumes“. Mit letzterem aber ist (nach Döderlein) das
Endziel systematischer Forschung erreicht.
Betrachtet man in diesem Sinne die Systematik unter phylogenetischem Gesichtspunkt, dann
müssen sofort die engen Beziehungen derselben zur T ie rg e o g r a p h ie hin ins Auge fallen. Denn
M Burckhardt ’0 0 ,1, pag. 421. n t s , .
2) L. Döderlein (’02): Uber die Beziehungen nahe verwandter „Tierformen“ zueinander. Zeitschr. Morph, und Anthropol.
Bd. IV, Heft 2, pag. 394—442.
einerseits ist ein Verständnis der tiergeographischen Tatsachen nur dann zu erhoffen, wenn die systematischen
Kategorien wirklich genetisch zusammenhängende Formen zusammenfassen, wenn sie also
in den Verwandtschaftsverhältnissen der Formen selbst begründet sind. Andererseits wird eine
genaue Kenntnis der Verbreitung der Formen die systematischen Anschauungen klären und unter
Umständen genauere Vorstellungen über Ort und Zeit der Entstehung der einzelnen Formen ermöglichen.
Zu diesem Zweck aber genügt nicht das Studium einer mehr oder weniger eng begrenzten
Lokalfauna, wie es in großem Umfange neben oder im Zusammenhänge mit systematischer Arbeit
von vielen Forschern betrieben wird, vielmehr ist die Vorbedingung dazu ein Überblick über die
Gesamtverbreitung der betreffenden Tierformen, und in dieser Absicht habe ich eine möglichst
vollständige, kritisch gesichtete Zusammenstellung der bisher bekannten Fundorte von Bosmina
coregoni zu geben versucht.
Den ersten, auf die folgende Arbeitstätigkeit außerordentlich anregend wirkenden Versuch,
von tiergeographischen Tatsachen aus zu Schlüssen auf die Geschichte der Bosmina-Formen zu
gelangen, unternahm Steuer (01). Er unterschied fünf Verbreitungszonen von Bosmina-T?oimen
und glaubte dieselben, im Anschluß an eine von N. Zograf aufgestellte Theorie, zum Teil mit der
Ausdehnung des Inlandeises in verschiedenen Phasen der Glacialzeit parallelisieren zu können. Doch
war sowohl die systematische Auffassung wie die tiergeographischen Tatsachen, auf denen Steuer
fußte, nicht geeignet, ein klares Bild der Verbreitung der Bosminenformen zu ermöglichen und eine
ausreichende Stütze für Steuers weitgehende Hypothese zu gewähren.1) Von wesentlich besser
fundierten und detaillierteren systematischen Vorstellungen ging Wesenberg-Lund (’04 und ’08)
bei seinen tiergeographischen Betrachtungen aus, und er kam zu folgenden, wichtigen Resultaten
betreffs der Verbreitung der europäischen Bosminenformen. Es sind in Europa zwei Verbreitungsgebiete
von Bosminen zu unterscheiden: ein arktisch-alpines (a northern aretic alpine territory) und
ein zentraleuropäisches Gebiet; „the cold, clear arctic and alpine lakes with their slight Variation
of temperature being characterized by B. coregoni of the group Longispina-bohemica2) and the warm
lakes of the plains, with their great Variation of temperature and the water of which is very rieh
in detritus and plankton by B. coregoni of the group Coregoni; B. longirostris seems to thrive in both
these groups of lakes“. Wesenberg-Lund (’08) glaubte in dieser Verteilung der europäischen Bosminen
eine Wirkung der Eiszeit sehen zu müssen. Dieser letztgenannte Gesichtspunkt Wesenbergs wird für
die Problemstellung tiergeographischer Untersuchungen über Bosminen von ausschlaggebender
Bedeutung bleiben.
Schließlich erfordert eine systematisch-genetische Behandlung des Genus Bosmina noch die
eingehendste Berücksichtigung einer Erscheinung: der außerordentlich stark ausgeprägten j ahr e s z
e itlic h e n Var i at ion oder der Cvclomorphose der B o sm in en . Einmal nämlich stellen sich
auf Grund des Studiums der Cyclomorphose sehr viele' Formen als bloße jahreszeitliche Zustände,
die in direkter genetischer Beziehung zu anderen Formen stehen, heraus. Da solche Formzustände nur
die Bedeutung einzelner unselbständiger, sich im Jahreszyklus aneinander fügender Glieder einer zusammenhängenden
Formenreihe haben, bringt die Kenntnis der jahreszeitlichen Bedingtheit dieser
Formzustände eine Reduktion der im System zu behandelnden selbständigen Formen mit sich.
-Andererseits wird die Aufgabe der Systematik durch die unumgängliche Berücksichtigung der jahresl)
Steuer stü tz te sich außerdem auf die Verbreitung der Centropagiden. Die Fehler der Steuerschen Auffassung liegen
darin, daß er die in ganz Europa verbreitete, überhaupt kosmopolitische B. longirostris zum Ausgangspunktseiner tiergeographischen
Schlüsse machte, und daß er den reich gegliederten Formenkreis der B. coregoni (Eubosmina Seligo bei Steuer) en bloc behandelte.
a) Hierzu rechnet Wesenberg auch die B . obtusirostris der skandinavischen Autoren.