Kenntniss civilisirter Zustände auf ihre Heimath ausübt, darf nicht
unterschätzt werden. Sie. sehen ihre Stammesgenossen, mit denen
sie sich ja ohne sonderliche Schwierigkeit verständigen können,
unter französischer Herrschaft frei nach ihren alten Gewohnheiten
leben, sicher vor den unablässigen Bedrückungen und Plünderungen,
denen sie selbst in ihrer Heimath ausgesetzt sind, sie lernen
menschenwürdigere Zustände kennen und sie müssten keine Berber
sein, wenn sie nicht auf den Gedanken kämen, dass ein solcher
Zustand am Ende doch dem unerträglichen Druck der Araber,
der fremden Eindringlinge, vorzuziehen sei. Gerade in einem
Lande, das sich gegen die Civilisation so hermetisch abschliesst,
wie Marokko, sind solche Einflüsse doppelt wichtig und wenn, was
ja unmöglich lange ausbleiben kann, die schauderhafte Missregierung
des Scherifs im Sultanat des äussersten Westens zusammenbricht,
werden diese Eisenbahnarbeiter es sein, welche, der
abendländischen Civilisation das Eindringen erleichtern.
Noch ging es eine Strecke weit durch die Ebene, dann legte
sich plötzlich ein ungeheurer Kalkberg wie ein Riegel quer in
den Weg, gekrönt mit einer senkrecht abfallenden, in wilde
Blöcke zerspalten en Felsenmauer, in der Mitte durchbrochen von
einer Spalte, die nur dem Fluss Raum bietet. Am Eingang
liessen wir uns absetzen, die Schlucht zu Fuss zu durchwandern;
unser Nachbar, ein freundlicher Kaufmann aus Algier, übernahm
es, meinen Tornister in’s Hotel de France in Palestro mitzunehmen
und uns dort auch gleich Quartier zu bestellen.
Unmittelbar vor dem Eingang baut man an einer Brücke, welche
die kühnste in Algerien zu werden verspricht, um die Bahn auf
das rechte Isserufer hinüberzuführen. Freilich findet sie auch
dort keinen Raum und muss den Felsen in einem fast stundenlängen
Tunnel oder richtiger in einer Reihe von Tunnels, welche
durch ganz schmale Zwischenräume geschieden sind, durch-
brechen. Auch die Strasse, die auf dem linken Ufer bleibt, hat
hier kaum Raum gefunden und musste fast in ihrer ganzen
Länge in den Feisen gehauen werden, denn die Gorges de
Palestro bilden eine wirkliche, ächte Klamm mit hohen, senkrecht
abfallenden Wänden, an düsterer Grossartigkeit dem Hoyo von
Gobantes vergleichbar. Die ganze Sohle nimmt der Eluss ein;
er war trotz des voraufgegangenen Regenwetters niedrig, so dass
ihn die Arbeiter durchwaten konnten, aber nach den Spuren am
Felsenufer muss er manchmal 1 5 -2 0 ' höher steigen und mag
dann schön toben. Am Eingang hatte man für die Arbeiter,
die auf der anderen Seite nicht den geringsten Raum für Schlafplätze
finden können, eine wirkliche fliegende Brücke angelegt,
bei deren blosem Anblick es dem Ungewohnten schwindeln
konnte, ein Drahtseil von Fels zu Fels, an dem ein Korb
herüber und hinüber flog. In einem Steinbruch stand im blauen
Kalk eine starke Ader krystalliriischen dunklen Gesteines an,
dem flüchtigen Ansehen nach ein Grünstein, - ein merkwürdiges
Vorkommen in diesem' Gebiet, und erst neuerdings zufällig auf-
■gedeckt, wenigstens erwähnt es Tchihatcheff, dem es sicher nicht
entgangen wäre, nicht ; ich verschob das Mitnehmen von Handstücken
leider auf den Heimweg, war aber dann so ungünstig
situirt, dass ich nicht dazu kam. Das harte Gestein. liefert ein
ausgezeichnetes Material für die Brückenpfeiler und wird darum
eifrigst ausgebeutet. ■ .
Es war gerade Mittag, als wir die Schlucht betraten, und
wir fanden sie ungemein belebt von den Steinhauern, die beim
Einwölben dem Tunnels beschäftigt sind; es waren meistens
Piemontesen oder Lombarden vom Fuss der Alpen, diese geborenen
Steinmetzen, die man in der ganzen Welt .findet. Sie
sahen uns neugierig zu, als wir die'glatten Felsenwände auf’s
gründlichste -zu untersuchen begannen. Die Isserschlucht ist
nämlich der Fundort für eine ganze Anzahl eigentümlicher
Molluskenarten, und für, verschiedene andere,, sowie auch, für
manche Pflanzen, 'bildet sie die Grenze der Verbreitung nach
Osten oder Westen. Unsere, Ernte war leider in quantitativer
Hinsicht durchaus nicht befriedigend, besonders die eigcnthum-
lichen Arten waren ganz auffallend einzeln, so genau wir auch
nachsuchten. Später erfuhren wir dann, dass schon zweimal im
Laufe desselbigen Winters Handwerksgenossen dieses' Weges
gefahren waren und die Schnecken so grausam decimirt hatten.
An jedem nur einigermassen zugänglichen Plätzchen klebten
Reiserhütten oder niedrige Steinhäuser; selbst zwischen der
Strasse und dem Fluss hatte man einige angebracht. Viele
standen freilich schon wieder leer, denn seit die Tunnels durch-
schlägig, sind die meisten Arbeiter weiter gezogen und bald wird
die Schlucht wieder ruhig genug sein. Dann wagen sich vielleicht
auch die Äffen wieder herbei, welche das ungewohnte