allen, die den Markt auf seinem Gebiete besuchen, die Anaïa
^gesichert, und furchtlos durchziehen zur Marktzeit Karawanen
mit reicher Ladung und fast ohne Bedeckung das Gebiet der
räuberischen Ho war,a , das zu anderen Jahreszeiten Niemand so
leicht ungeplündert verlässt. Bei den Ouled Rif und den Amazirgh
gilt dasselbe Recht; ein entschlossener Reisender, der aber
selbstverständlich ohne Regierungseskorte kommen müsste, besonders
ein Arzt, würde, wenn es ihm einmal gelänge mit einem
angeseheneren Berberchef oder Marabut in Verbindung zu kommen,
unbedenklich den grössten Theil des marokkanischen Atlas durchwand
êrn können.
Die Anaïa wird gewöhnlich dadurch angedeutet, dass der
Beschützer seinem Schützling irgend einen als sein 'Eigenthum
bekannten Gegenstand, eine Waffe oder dgl. mitgibt, mitunter
auch ein Thier, ein Maulthier oder selbst einen Hund. Natürlich
übernimmt der Kabyle die schwere Verpflichtung nicht leicht-
_ fertig, und wer sich der Anaïa eines Anderen rühmte, ohne dass
sie ihm ertheilt war, konnte von diesem ungestraft getödtet
werden. In Nothfällen kann aber auch eine Frau mit rechtsgültiger
Wirkung die Anaïa geben, wie dies in einem Fall ge-
schah, den Daumas*) erzählt. Eine Berberfrau aus dem Stamme
der Zouaoui gg| demselben, von dem der Name der Zouaven abgeleitet
ist - - gab einem Schutzflehenden als Zeichen des Geleites
eine Hündin mit; am anderen Tage kam das Thier allein
und blutig zurück und sofort brachen die Krieger des Dorfes
auf, verfolgten die Fährte bis sie den Reisenden ermordet fanden,
und zerstörten das ganze Dorf, dessen Bewohner das Verbrechen
begangen. Das Dorf heisst darum heute noch das Dorf der
Hündin, Taour i r t -en-Tidits. Die Anaïa hat manchen Bürgerkrieg
entzündet, aber auch manchen beendet. Dauerte eine Fehde zu
lang, wurde sie zu erbittert und zur Gefahr fürs ganze Land,
dann traten die Nachbarstämme auf und warfen, wie der Kabyle
sagt, ihre Anaïa dazwischen.- Dann musste der Kampf ruhen,
denn sonst wären die »Herren der Anaïa« sofort gegen die
widerstrebende Partei aufgetreten, und -es begannen Verhandlungen,
die meistens zum Frieden führten. Die Anaïa der Märkte
galt auch im Kriege, und die Leute der feindlichen Stämme verkehrten
auf dem Souk friedlich miteinander. In der Unmebunp-
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*) Moeurs et coutumes de l’Algérie. 3 me édit. Paris 1858., p. 251.
besuchter Märkte ruhten darum, wie zur Zeit als der deutsche
Gottesfrieden galt, alle Fehden an bestimmten Tagen der Woche.
Eine Frau hatte aber Frieden überall und Frauen wurden darum
auch häufig als Botinnen und Unterhändlerinnen, gebraucht. Mit
der E i n f ü h r u n g gesicherterer. Rechtszustände hat die Einrichtung
des freien Geleites in der französischen Kabylie viel von ihrer
Bedeutung verloren, aber sie besteht noch immer und gar mancher
Mord in den abgelegeneren Gebieten gilt der Sühne einer angetasteten
Anaia. _
Abgesehen von den £ofs halten aber durchschnittlich die
Kabylen eines Dorfes fest zusammen, besonders Fremden gegenüber.
Der auswärtige Kabyle ist nur dann berechtigt,, wenn er
einem Dorfe angehört, mit dem ein Freundschaftsverhältniss besteht;
der Landfremde ist eigentlich rechtlos — friedlos, sagten
die alten Germanen dafür —, so lange er keinen Schutz erwirkt
hat, den einem Flüchtling freilich so- leicht kein Kabyle verweigern
wird. Ist ihm aber einmal der Schutz zugesichert, so
wird ein ganzes Dorf, ja selbst ein Stamm, lieber bis zum letzten
Mann kämpfen, als seinen' Schützling ausliefern. Die Hochburg
des Dschurdschura war für Flüchtlinge aus Algier immer ein sicherer
Zufluchtsort und mehr als ein abgesetzter Dey hat dort, seinem
Nachfolger unerreichbar, den Rest seiner Tage verlebt. Fremde
betrügen und bestehlen gilt dagegen durchaus für kein Unrecht.
In den Zeiten der Unabhängigkeit bestanden sogar officielle
Hehler (Aj ebb a r oder 0 u ka f), welche die Verwerthung des
gestohlenen Gutes besorgten, und in verschiedenen Stämmen galt
die Falschmünzerei für ein ganz ehrenwerthes Gewerbe, für das
nebenbei bemerkt die Kabylen heute noch ebensoviel Sinn und
Geschicklichkeit haben, wie ihre Verwandten in Südspanien. )
Nur durfte falsches Geld niemals auf einem kabylischen Markte
zur Ausgabe gelangen; wer das versuchte, der wurde, wenn er
ein Stammesgenosse war, seiner sämmtlichen Habe und seiner
Kleider beraubt und splitternackt in dieses Wortes verwegenster
Bedeutung’ über die Grenze gejagt; ein Fremder wurde ohne
Weiteres gesteinigt. Innerhalb des Dorfes aber verlangt man
von dem Kabylen nicht nur unbedingte Ehrlichkeit, sondern auch
*) Die fast rein kabylisch gebliebene Huerta von Valencia und diese
Provinz überhaupt gelten heute noch für den Hauptsitz der Falschmünzerei
in Spanien.