Das heilig gehaltene Herkommen verpflichtet auch die Ka-
bylen eines Dorfes zu ausgedehnten wechselseitigen Hülfeleistungen,
ganz wie in den besten Zeiten des deutschen Dorflebens, wo die
Nachbarschaft noch hochgehalten wurde, und wie es sich nur
noch m wenigen abgelegenen, von der Industrie unberührten
Gegenden bis auf unsere Tage erhalten hat. Will ein Kabyle
ein neues Gurbi errichten, so haben seine Dorfgenossen die Verpflichtung,
ihm zu helfen, ihm die ausser den gelernten Maurern
nöthigen Arbeiter zu stellen; sie helfen ihm die Ziegel und Backsteine
anfertigen, die Frauen tragen ihm das nöthige Wasser'zu,
die gesammte Mannschaft holt das Holz aus dem Gemeindewalde.
Auch bei der Ernte, beim Jäten helfen sie sich gegenseitig und
nur selten werden bezahlte Tagelöhner genommen. Verliert ein
Kabyle ein Stück Vieh, so theilen die sämmtlichen Dorfgenossen
das Fleisch - - die Kabylen sind in der Beziehung nicht ekel —
unter sich, und jede Haushaltung trägt einen entsprechenden
Antheil von dem entstandenen Schaden, eine Einrichtung, welche
unseren dörflichen Viehversicherungskassen vollständig entspricht.
— Wird einem Kabylen nachgewiesen, dass er in der Fremde
einen Dorfgenossen in Krankheit oder Noth im Stiche gelassen,
so wartet seiner daheim eine strenge Strafe, die bis zu mehrjähriger
Verbannung steigen bann.
Noch eine andere Sitte erinnert auffallend an die Gebräuche
der deutschen Bergbewohner. Zu meiner Jugendzeit —=- ich weiss
nicht, ob das heute noch so ist — waren auf dem hohen Vogelsberge
die Bewohner der letzten Dorfhäuser verpflichtet, bei dichtem
Nebel und Schneegestöber — Wüsterwetter, wie man dort oben
sagt, m bestimmten Zwischenräumen Hornsignale zu geben,
um verirrten Wanderern die rechte Richtung zu weisen. Ebenso
müssen im Winter, der in den Hochbergen des Dschurdschura ja
schlimm genug auftritt, die Dorfbewohner in bestimmter Reihenfolge
hinausziehen an die gefährlichsten Pässe, um nach etwaigen
Wanderern zu sehen, und selten vergeht ein Winter, wo nicht
dadurch mehrere Menschenleben gerettet werden.
Die Gewohnheit des Zusammenstehens der Nachbarn hat natürlich
im Kabylenlande die Einrichtung von Erwerbs-Genossenschaften
hervorgerufen und in einer Weise ausgebildet, dass unsere deutschen
Genossenschaften von ihnen lernen könnten. Aber ich muss mir
versagen, hier genauer auf diesen interessanten Gegenstand einzugehen
und bemerk«? nur, dass die Wässerungsgenossenschaften
in den spanischen Vegas nur die Ausbildung einer ächt kabylisehen
Einrichtung sind.
Die Kabylengemeinde deckt ihre Bedürfnisse, soweit sie nicht
aus den Strafgeldern und etwaigem Gemeindevermögen bestritten
werden können, durch eine Gemeindeumlage, welche die Djemaa
ausschreibt und nach dem Vermögen auf die einzelnen Geschlechter
vertheilt. Gemeindearbeiten werden immer in der Frohne ausgeführt,
und auch dabei bestimmt das Herkommen ganz genau,
was jede Familie zu leisten hat. In die Gemeindekasse fliessen
vorab die Strafgelder; sie sind ziemlich bedeutend, weil alle Vergehen,
die schwersten ausgenommen, mit Geld bestraft werden,
für den geizigen Kabylen allerdings die , härteste Strafe. Dann
sind bei jeder Hochzeit, bei jeder Beschneidung, bei jeder Geburt
bestimmte Gebühren an die Gemeinde zu zahlen. Fremde,, welche
sich in einem Dörfe niederlassen wollen, müssen ein Einzugsgeld,
Gemeindeglieder, die wegziehen, aber auch ein Abzugsgeld bezahlen,
endlich gehören die Getreidemühlen wie die Oelmühlen häufig der
Gemeinde, und für ihre Benutzung muss eine Abgabe bezahlt
werden. Viele Gemeinden besitzen auch Oelbäume und Feigenpflanzungen,
oft auch Gemeindewaldungen und Hutungen
(Mechmel), welche mitunter mehreren Dörfern gemeinschaftlich
sind und dann ganz nach denselben Grundsätzen verwaltet werden,
wie sie bis zur neuen deutschen Gesetzgebung für die Markgenossenschaften
galten. Jeder Markgenosse kann unter bestimmten
Bedingungen seinen Bedarf an Bau- und Brennholz aus-
dem Walde decken, aber verkaufen darf er Nichts ohne Ermächtigung
der Djemäa, in deren Kasse er einen bestimmten Theil
des Erlöses abliefern muss. Auch das ist ein eigentümlicher
germanischer Zug mitten unter Völkern, bei denen überall der
Wald frei, Eigenthum Allahs,*) ist.
Die Gerichtsbarkeit innerhalb des Dorfes hatte früher unbedingt
die Gemeinde; sie verhängte Geldstrafen, sie konfiscirte das
Eigenthum, sie setzte bei Verwundungen den Blutpreis**) fest, sie
*) Auch der Neugrieche sägt: t o %vlov e iv a i t o v Steov, der Wald
• ist Gottes. Die natürliche Folge dieser Anschauung ist, dass der Wald sehr
schnell des Teufels wird.
**) Die D ia (Blutpreis, Wergeid) ist eigentlich keine kahylische Einrichtung;
die Djemäa verhängt nur eine Strafe, welche in die Gemeindekasse