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durch eine ganz auffallende Wohlbeleibtheit aus, die es häufig
schwer machte, die Rasse zu erkennen.
Die Rue Cannebi e r e ist eine schöne breite Strasse, aber
warum die Marseiller so ganz besonders stolz auf sie sind,1 habe
ich doch nicht recht begreifen können, auch wenn ich die neu
verbreiterte Rue de No ai II es hiüzunehme; ein Boulevard, wie
in Toulouse oder gar in Paris, ist sie noch lange nicht. Folgt man
dem von ihr ausgehenden Strassenzug, so kommt man auf einen
geräumigen Platz, auf welchem der Blumenmarkt stattfindet, und
von dort aus führt die schnurgerade Rue de Lonchamp nach
dem für uns wichtigsten Gebäude, dem neuen Museum. Es ist
ein Prachtbau, den man gerade über dem grossen Reservoir der
Wasserleitung errichtet hat. Diese Leitung selbst ist ein gigantisches
Werk, das sich mit den kühnsten Römerbauten messen
kann. Sie entnimmt ihr Wasser der unerschöpflichen Durance,
die aus der Geissel der Provence jetzt deren Wohlthäterin geworden
ist, hoch oben in den Alpen, 84 Kilometer von der Stadt
entfernt, durchbricht die Kette d’Eguilles (öder Taillades) in einem
fast vier Kilometer langen Tunnel und überschreitet bei Roque-
favour auf' einem 400 Meter langen dreistöckigen Aquädukt das
Thal des Are; sie hat, nachdem sie zahlreiche Bewässerungskanäle
gespeist, immer noch Wasser genug für die 400 öffentlichen
Brunnen und zum Spülen der Strassen. Durch diese überreiche
Wasserversorgung ist Marseille, früher seines Schmutzes wegen
verrufen, eine säubere und gesunde Stadt geworden; ohne die
Wasserleitung würde die letzte Choleraepidemie wohl andere Verheerungen
angerichtet haben; da der Kanal auf dem höchsten Punkte
der Stadt einmündet, konnte man selbst noch die Stadttheile dicht
unter der Madonna della Guardia mit laufenden Brunnen versehen.
Ueber dem gewaltigen Sarnmelbassin hat man einen reizenden
öffentlichen Garten, J a rd in de Lonchamp, angelegt und
in diesem einen Prachtpalast errichtet, zwei Flügel durch eine
Säulenhalle verbunden, von denen der linke der Naturwissenschaft,
der rechte den schönen Künsten überwiesen ist; zwischen beiden
fällt eine Kaskade in ein mit Statuen geziertes Becken. Auf den
Thoren halten vier seltsame Kreaturen Wache, deren Bestimmung
einen Zoologen in Verlegenheit setzt; den Reisehandbüchern nach
sind es ein Tiger, ein Panther und zwei Löwen; letztere sind an
der Mähne am Ende zu erkennen, aber die beiden anderen nehmen
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sich am Eingang eines zoologischen Museums etwas seltsam aus
und bilden einen merkwürdigen Gegensatz zu den Prachtstücken,
die ausgestopft im Inneren stehen. Das Museum ist eines der
reichsten und schönsten in Europa. Gleich in der Eingangshalle
stehen die Knochen eines riesigen Rorqual (Balaenopterus rorqual
Lac.), eines Walfisches, der 1871 bei la Ciotat strandete. Daneben
sieht man den Unterkiefer eines anderen riesigen Seesäugers, der
einst der Schrecken des Mittelmeeres war, jetzt aber kaum mehr
in demselben gefunden wird, der Orca (Orca gladiator Gray). Diese
grösste unserer Delphinarten, über dreissig Fuss lang ^werdend,
konnte für die kleinen schmalen Ruderschiffe der Alten ernstlich
gefährlich werden; sie wurde von ihnen ihrer Raubsucht und Bos-
heit wegen abergläubisch gefürchtet und der Gleichklang ihres
Namens mit Orcus, der Unterwelt, ist schwerlich zufällig. Ihr
Erscheinen galt als eine böse Vorbedeutung und die Schriftsteller
haben es der Mühe werth gehalten, zu berichten, wenn ein Exemplar
in der Nähe des Strandes gesehen wurde. Als unter Kaiser
Claudius eine Orca bei Ostia strandete, zog der Kaiser in Person
mit seinen Prätorianern aus, um das Thier zu tödten. Auch Prokop
ius von Ca e s a r e a , der Geschichtsschreiber des Kaisers
Justinian und Belisars, erzählt von einem solchen Seeungeheuer,
das die Byzantiner Porphyrion nannten und das länger als fünfzig
Jahre, hindurch die Gewässer von Byzanz unsicher machte, viele
Fahrzeuge versenkte und andere in weite Entfernungen vertrieb,
bis es endlich im Jahre 547 an der Mündung des San g a r iu s
auf eine Untiefe gerieth und dort erschlagen wurde; es soll dreissig
Ellen lang gewesen sein. Peys son e l , d e r'1724 nach Tunis
reiste, berichtet, dass er unterwegs eine riesige Orca (Mulat) gesehen
habe, welche auf die gemeinen Delphine Jagd machte, nichf
nur um sie zu fressen, sondern auch noch als sie gesättigt war
aus purer Mordlust. Die Delphine flüchteten aber durchaus nicht,
sondern spielten um ihren Feind herum und schienen sich ihm
selbst in den Rachen zu werfen. Die Matrosen versicherten dem
Reisenden, dass sie dieses Schauspiel oft beobachteten. Jetzt ist
die Orca in dem Mittelmeer ebenso selten geworden wie die
grossen Walfische, und findet sich nur noch in den nördlichen
Meeren; sie ist, den Walfischfängern wohl bekannt als ungünstiges
Vorzeichen, denn wo sie- auftritt, flüchtet- der Walfisch und ist
keine Beute zu. hoffen. Doch verirren sich einzelne Exern