VI. Morphologie der Gallen.
Im nachfolgenden Kapitel soll nicht von den äußeren Formverhältnissen der Gallen überhaupt
die Rede sein, sondern nur von denjenigen Gallen, bei welchen es sich um Umwertung von O r g a n e n
oder um Neubildung von solchen handelt, d. h. von denjenigen Gallen, die ich oben als organoide
bezeichnet habe.
Dio Gestaltungsvorgänge, welche den Unterschied zwischen normalen Pflanzenorganen und den
aus ihnen hervorgegangenen organoiden Gallen ausmachen, können sehr verschieden sein. Zunächst
kann es sieh um Umbildung von Organen handeln z. B. um die Bildung von Niederblättern statt
Laubblättern, um die Bildung von Laubblättern statt Nebenblättern, um die Füllung der Blüten,
um Verwandlung der Fruchtknoten zu freien Karpellen u. dergl. m., — oder es kann Neubildung
von Organen eintreten, d. h. Neubildung von Wurzeln, SproBscn, Blättern, Geschlechtsorganen.
Zu einer dritten Kategorie möchte ich die Achsenstauchungen vereinigen, welche zur Bildung von
Blattschöpfen oder artischokonähnlichen Gallen an vielen Kraut- und Holzpflanzen führen. Schließlich
sind die Hexenbesen zu nennen, die durch abnormale Verzweigung infizierter Sproßabschnitte
zustande .kommen.
Ich nannte in den vorangehenden Zeilon die verschiedenen Gestaltungsprozesse, die beim
Zustandekommen organoider Gallen beteiligt sind: in vielen Fällen sehen wir aber, daß bei Bildung
e i n e r Gallenform es sich um mehrere dieser Vorgänge gleichzeitig handeln kann, so daß das „Krankheitsbild“,
das eine Galle aufweist, z. B. durch die Kombination von Organ - U mb i 1 d u n g
und Organ - N e u b i l d u n g gekennzeichnet worden kann.
Folgende Beispiele mögen für die Erläuterung des Gesagten genügen.
1. Umbildung von Organen.
Göbol vor allem hat gezoigt, daß man durch relativ einfache experimentelle Eingriffe die
Pflanze zur Bildung von Organen bringen kann, die sich wesentlich von denjenigen unterscheiden,
die beim normalen Fortgang der Entwicklung entstehen. Durch Entgipfelung und Entblätterung
kann nmn bei Prunus Padus dort, wo Knospenschuppen zu erwarten waren, Laubblätter entstehen
lassen, und durch andere Eingriffe verschiedener Art gelingt es an vielen Pflanzen, ihre „Jugendfora!“
wieder hervorzurufen, d. h. diejenigen Organformen, die bei normaler Entwickelung des
Pflanzenindividuums nur für seine frühesten Entwicklungsphasen charakteristisch sind.
Ähnliche Organumformungen und -Umwertungen werden durch sehr zahlreiche gallenerzeugende
Pilze und Tiere hervorgerufen. In vielen Fällen entsteht statt der erwarteten Organform eine
„niedrigere“, einfachere Form, so daß wir an Göbel s Untersuchungen über Jugendformen erinnert
werden und von Hemmungsbildungen zu sprechen Veranlassung haben; in anderen Fällen entstehen
umgekehrt statt der erwarteten einfachen Organformen sehr viel kompliziertere.
Sowohl an vegetativen Sproßabschnitten als auch an den Blüten sind organoide Gallen der
in Rede stehenden Art zu finden.
Vereinfachung der Blattform ist bei vielen Blattschöpfen anzutreffen: die von verschiedenen
Dasyneuren hervorgerufenen Schöpfe an Euphorbiaarten bestehen aus ähnlich einfachen Blättern,
wie sie an den von Uromycesarten infizierten Exemplaren von Euphorbia cyparissias anzutreffen
sind. Bei Besprechung der „äußerlichen“ „Gallen mit unbegrenztem Wachstum“ stellt Beye r inck
eine ganze Gruppe von Knospengallen zusammen, bei welchen sämtliche Blätter stets zu niederblattartigen
Organen reduziert sind; die von Li via juncorum an verschiedenen Juncusarten erzeugten
Gallen interessieren uns insofern, als bei ihnen der Scheidenteil der infizierten Blätter dermaßen
vergrößert, der Spreitenteil so stark reduziert ist, daß das Aussehen der Blätter vollständig verändert
erscheint.
Sehr überraschend sind die Veränderungen, welche Eriophyes dispar an den Zweigen von
Populus tremula hervorruft: die normalerweise unscheinbaren und hinfälligen Nebenblätter werden
sehr oft zu stattlichen Laubblättern, so daß immer drei Laubblätter nebeneinander an der Achse
inseriert stehen; das mittelste entspricht dem auch an normalen Zweigen vorhandenen. Die drei
zusammengehörigen Laubblätter können miteinander in mannigfaltiger Weise verwachsen.
Organumformungen treten auch in der Blütenregion auf: Copium Teucrii verwandelt z. B.
die Kronen des Teucrium montanum in große, bauchige Urnen, die an der Spitze durch ihre fünf
ungleichförmigen Zipfelchen noch die Zygomorphie der normalen Krone andeuten.
Sehr mannigfaltig sind die durch Gallenmilben, Hemipteren u. a. in Blüten hervorgerufenen,
als Vergrünungen wohlbekannten Organumwandlungen. Ganz ähnliche Veränderungen sind von
zahlreichen Pilzgallen her bekannt.
Als Beispiel mögen die auf verschiedenen Cerastiumarten durch Trioza Cerastii, auf Lonicera-
arten durch Siphocoryne xylostei hervorgerufenen Chloranthien, die von Peyr i t s ch an Cruciferen
studierten Aphidengallen, die Chloranthien verschiedener Veronica- (Eriophyes anceps) und Gentiana-
arten (E. Kerneri) erwähnt werden. Als mycogene Vergrünungen seien die von Albugo auf Cruciferen
erzeugten genannt.
Werden die Staubblätter zu petaloiden Organen umgewandelt, so entstehen gefüllte Blüten.
Gallmilben „füllen“ die Blüten von Valerianella carinata, die überdies unter dem Einfluß der Infektion
ihre abnorm vergrößerten Blumenblätter zu fleischigen Scheiben vereinigen. Bei Rhododendron
ferrugineum u. a. werden nicht nur Staub- und Fruchtblätter zu Blumenblättern umgewandelt
(Infektion durch Eriophyes alpestris), sondern es tritt noch eine Teilung der Organanlagen ein, so
daß sehr zahlreiche Blumenblätter die Blüte voll werden lassen. Eriophyiden machen die Blüten
verschiedener Ranunculusarten sehr stattlich.
Ganz ähnliche Blütenfüllungen treten unter dem Einfluß von parasitisch lebenden Pilzen ein.
Ustilago saponariae füllt die Blüten von Saponaria officinalis, Peronospora violacea die von Knautia
arvensis usf.
Zu den Organumwandlungen ließen sich noch eine Reihe anderer Anomalien stellen, z. B.
die Teilung der Kompositenköpfchen in mehrere kleine, die Verbänderungen oder Fasciationen,
die Bildung von Schlauchblättern oder ähnlichen Mißgestalten u. a. m.
2. Neubildung von Organen.
Wurzeln und Sprosse können unter dem Einfluß von gallenerzeugenden Parasiten „neu“
gebildet werden.
Beispiele für adventive Wurzelbildung liefern die bekannten Grasknotengallen, welche
Mayetiola poae an den Halmen von Poa silvestris hervorruft: an den Infektionsstellen entstehen
zahllose feine Würzelchen. Daß Pontaniagallen (P. salicis) sich auf Boden oder feuchtem Sand leicht