Die Formen der Organe — der Wurzeln, Achsen und Blätter, der Blüten und Früchte «gl
wiederholen sich bei den Vertretern e i n e r Pflahzenspezies SO konstant, daß man leicht zu der
Meinung kommen könnte, das Bepertoire der Gestaltungen oder Gestaltungsmäglichkeiten, welche
der betreffenden Art zu Gebote stehen, sei mit den Formen erschöpft, durch die wir allenthalben die
derselben Spezies ungehörigen Individuen erkennbar werden sehen.
Ähnliches gilt von den verschiedenen GeWébsarten, welche die Organe eines Pflanzenindividuums
aufbauen und die verschiedenen Spezies charakterisieren helfen; denn, wie bekannt,
wiederholen sich auch die Merkmale der „inneren Morphologie“ bei Vertretern einer Art, Gattung
oder Familie an gleichnamigen Organen mit, solcher Konstanz, daß auch sie nicht selten die Bestimmung
der zur Untersuchung vorliegenden Proben nach ihrer Familienzugéhofigkeit, nach ihrer
Gattung oder sogar Art ebenso gestatten, wie es von den äußereh makroskopisch wahrnehmbaren
Merkmalen allbekannt ist.
Eine zutreffende Vorstellung von der ungeheuren Mannigfaltigkeit der in jeder Pflanzen-
spezies schlummernden Gestaltungs- und Differenzierungsfähigkeiten bekommen wir zweifellos erst
dann, wenn wir nicht nur das große Heer der „normal“ oder „typisch“ entwickelten Pflanzenindividuen,
die dem Systematiker in erster Linie als Grundlage für seine Forschungen zu dienen
haben, auf seine Organformen und Gewebedifferenzierungen untersuchen, sondern auch das „Abnorme“
einer eingehenden Erforschung würdigen.
Es stellt sich dann heraus, daß außer den Organformen, welche die Begründung einer „ S p e z i «
veranlagten oder veranlassen halfen, von derselben Spezies noch allerhand andere produziert
werden können, die sich in Größe und Gestalt, in ihrer Gliederung, in ihrer Stellung am Pflanzenkörper,
von den Teilen eines normalen Individuums bald nur unwesentlich, bald recht auffällig)
unterscheiden können. Die Fähigkeiten emei Pflanzenspezies eischopfen sg * keineswegs daIm^
Blüten mit einer bestimmten Wirtelzahl, Blütenwirtel mit » e r bestimmtem Gliederzahl, Kelch
und Krone von bestimmter Form — etwa mit „verwachsener“ Böhre, mit vier, fünf oder mehr
Zipfeln usw., wie es der Diagnose der Art entspricht —, zu entwickeln, sondern es „können“ fon ihr
auch ganz andere Blüten,M- Pelorien statt zygomorpher Blüten, gefüllte statt leerer, Staminodien
statt der Stamina usf. entwickelt werden; die Anordnung der Blätter und ihre Forni, die Ausbildung
der Stipulae, die Zahl der Keimblätter und vieles andere kann abweichen vom „Typus“. Ebenso
verhält es sich mit den anatomischen Merkmalen. Jedes etiolierte Blatt lehrt, daß die Entwicklung
dös n^malpn Mesophvlles, die bei den meisten Dikotvledonen unseres Klimas zur Differenzierung
von Palissaden- und Schwammparenchym führt, nicht naturootwendig in der jungen Anlage, die
zum Blatte werden soll, oder in den Zellen eines solchen und der diese aufbauenden Substanz
begründet liegt, sondern daß auch Organe, Gewebe und Zellen mit ändern Eigenschaften aus derselben
Anlage hervorgehen können, welche unter „normalen“ Verhältnissen ein „typisches“ Blatt mit
Palissaden und Schwammgewebe geliefert hätte. Wie reichhaltig sind z. B. die Strukturmannigfaltigkeiten,
welche wir an Blättern, die von Pilzen, Milben oder Insekten besiedelt worden sind, unter
dem Einfluß der fremden Organismen entstehen sehen! Was vom Blatt gilt, trifft auch für die Achse
und überhaupt für alle Organe einer Pflanze und ihre verschiedenen Gewebe zu.
Überblickt man die Mannigfaltigkeiten in der abnormalen Organ- und Gewebebildung, die
auch nur von den Vertretern e i n e r Pflanzenspezies produziert werden, so drängt sich von
selbst die Frage auf, wo die Grenzen dieser Entwicklungsmöglichkeiten liegen, und der Wunsch
steflt sich ein, wenigstens für einzelne Spezies die Summe dessen zu ermitteln, was ihren Zellen und
ihrem Plasma an Gestaltungs- und Differenzierungsmöglichkeiten erreichbar ist. Von der Beantwortung
dieser und ähnlicher Fragen sind wir zur Zeit freilich noch weit entfernt, obwohl die
Natur auch ohne unser Zutun allenthalben uns Material für Untersuchungen der angeführten
Art liefert und uns namentlich mit den G a l l e n von der fast grenzenlosen Mannigfaltigkeit der
den Pflanzenarten möglichen Gestaltungs- und Differenzierungsprozesse den schlagendsten Beweis gibt.
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Die Gallen sind schon längst kein lusus naturae mehr, der gerade ausreicht, um das Kuriositäteninteresse
des Naturaliensammlers zu stillen, sondern schon seit Dezennien Gegenstand aufrichtigen
wissenschaftlichen Interesses und mühsamer, erfolgreicher Forscherarbeit geworden, und die
Lehre von den Gallen birgt schon heute eine solche Fülle gesicherter Ergebnisse und beschäftigt sich
mit der Lösung so zahlreicher Sonderprobleme, daß sie fast schon als selbständige Disziplin unseres
biologischen Wissens und Forschens geschätzt werden darf.
Viele Aufgaben, welche die Cecidiologie sich zu stellen hatte, haben die Vertreter dieser Disziplin
bereits erledigt und gelöst, oder doch wenigstens einer befriedigenden Lösung nahe gebracht i
die Zoologen haben die zahlreichen Tiere, deren Produkte uns an den Pflanzen als Gallen auf fallen,
benannt und beschrieben, ihre Lebensweise nach Möglichkeit erforscht und ihre Beziehungen zu den
Wirtspflanzen aufgedeckt; die Botaniker haben die spezifischen Umwandlungen, welche durch
Parasiten bestimmter Art an bestimmten Wirtspflanzen erzeugt werden, nach morphologischen und
anatomischen Gesichtspunkten untersucht, haben die Entwicklungsphasen jener seltsamen Gewebewucherungen
klargelegt und nach der Bedeutung der letzteren für den Parasiten und den
von ihm besiedelten Pflanzenorganismus gefragt. Wir sind über die Verbreitung der Gallenerzeuger
— wenigstens so weit die Kulturländer in Betracht kommen — vortrefflich unterrichtet
und verfügen über diagnosenartige Beschreibungen der Gallenbildungen, welche die sichere
Bestimmung der zu den Gallen gehörigen Gallenerzeuger möglich machen.
Gleichwohl bleibt das Meiste noch zu tun übrig: unzweifelhaft bieten die Gallen Zoologen
und Botanikern noch überreichlichen Stoff zur Behandlung und Lösung wichtiger zoologischer,
botanischer und allgemein biologischer Fragen. Daß mit Hilfe der leicht wahrnehmbaren Gallen
tiergeographische Fragen in Angriff genommen werden könnten, scheint nicht fraglich. Die
Biologie der Gallenerzeuger ist in vielen Punkten noch ungenügend klar gelegt, und ihre Behandlung
durch künftige Forscher verspricht noch eine Ernte von vielen bedeutsamen Resultaten.
Die Botaniker haben die Fragen nach der Anatomie der Gallen zwar in Angriff genommen, aber
erst über die Hauptpunkte Klarheit geschafft; über die chemische Zusammensetzung der Gallen
liegen nur vereinzelte, keineswegs ausreichende Untersuchungen vor, und dasselbe gilt für die
Fragen nach den physiologischen Fähigkeiten der Gallen, die auf die Energie ihrer Assimilationsund
Atmungstätigkeit, auf ihre Transpiration und ihre wachstumsphysiologischen Eigenschaften
hin mit den entsprechenden normalen Teilen der Wirtspflanze zu vergleichen wären. Vor allem
interessieren die Gallen den Botaniker und Biologen als Aufschluß darüber, was für Entwicklungsmöglichkeiten
in einer Pflanze liegen, um so mehr, als es den experimentell arbeitenden Forschern
bisher auf keine Weise gelungen ist, abnorme Bildungen, die den Gallen vergleichbar wären, künstlich
an irgend welchen Pflanzenarten hervorzurufen. Über die Ätiologie der Gallen sind wir daher
bis jetzt nur ganz ungenügend unterrichtet, und die entwicklungsmechanischen Fragen, zu welchen
das Studium der Gallen uns führt, haben bis jetzt noch keinen Bearbeiter finden können.