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America und Australien.
Für die Geschichte der Gestalt Ame r i c a ’ s müssen
wir uns mit Nachrichten aus den neuesten Zeiten
begnügen, da unsere Kenntnifs von diesem Lande so
jung ist. America ist zwar in der kurzen Zeit, seit
welcher es den Europäern bekannt wurde, sorgfältiger
und tiefer erforscht worden, als das altgeschichtliche
Af r i ca , und es mangelt nicht an Beobachtungen
über die physische Beschaffenheit jenes Erdtheils,
und an Vermuthungen über Begebenheiten, die auf
seine jetzige Gestaltung gewirkt haben mögen. Man
bemerkt an den Küsten sowohl Erscheinungen, die
ein Abnagen derselben durch den Ocean bestimmt
genug andeuten, als auch solche, die vom Ansetzen
neuen Landes zeugen; aber es mangelt an einem
Maasstabe für die Zeiträume, in welchen solche Veränderungen
bewirkt worden seyn mögen. Man sieht
an der langen Kette kleiner Inseln, welche die Küstern
des Nordamericanischen Freystaates bis an den
Mi s s i s ip p i , und die Westküste von Nordamerica
in ihrer nördlichen Hälfte begleiten, dafs diese Inseln
entweder vor den Küsten des Continents von dem
Meere neu gebildet worden, oder dafs sie (wahrscheinlicher)
einst selbst die Continental-Küste gewesen,
und durch das Meer abgetrennt worden sind.
Man darf muthmafsen, dafs die hinter den Meeres-Armen,
welche diese Inselchen vom festen Lande scheiden
, liegenden salzigen Moräste einst trocknes Land
gewesen , und jetzt schon halb die Beute des erobernden
Oc e ans sind. Man sieht am Mi s s i s ip p i und
an anderen grofsen Strömen Spuren ehemaligen höheren
Wasserstandes und des tiefem Einschneidens in
ihre Betten. Man kann wohl anzunehüien wagen,
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dafs We s t in d i e n in der Vorzeit eine andere Gestalt
hatte, als die jetzige; da die Lage seiner Inseln, indem
sie die Form der Westküste von Ne u - S p a n i e n
nachahmt, zu deutlich darauf hinweifs.t, dafs sie nur
die Trümmer des gröfsern Festlandes sind, welches
der Ocean allmählig zerstört hat, indem er den Me-
x i c a n i s e h e n Busen aushöhlte. Man bemerkt an
diesen Inseln die Spuren dieser Art ihrer Bildung.
Man muthmafset auch vielleicht nicht mit Unrecht einen
ehemaligen Zusammenhang des Feuerlandes mit
der Südspitze von Ame r i c a .
Aber die historischen Denkmale für Thatsachen
solcher Art — selbst für geringere, vielleicht noch in
den Raum der Geschichte des Menschengeschlechts gehörende
— sind für America verloren gegangen. Kaum
haben sich einige dunkele Sagen davon unter denUeber-
bleibselnder verdrängten und grofsentheils zerstörten Ur-
völker erhalten. Wohl findet man bey ihnen, wie in der
alten Welt, hie und da die Sage von einer grofsen allgemeinen
Fluth, von dem allmähligen Auftauchen des
Landes aus den Gewässern, so wie vom Gegentheile
__ dem Verschlingen ganzer Landstriche durch das Meer.
Ohne Zweifel gehören diese Sagen in Americas Fabelzeit,
wenn gleich die Tradition sich hie und da bestrebt,
sie näher an die neuere heranzurücken. Als
Beyspiel einer solchen Sage führen wir diejenige an, deren
Le Page du Praz gedenkt. Diesem versicherte der
Nordamericanische Wilde, Moncacht-jipe} er habe von
einem seiner Landsleute gehört, dafs ein Dritter noch
mit eigenen Augen Länder gesehen habe, welche nachher
vom Meere verschlungen worden seyen (x).
l) Gatterer's historische Biblioth. Bd. 6. S. 253"
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