Gleich vielen Muta tionen können orthogenetische E v o lu tionsvorgänge einen durch au s
autonomen C h a rak te r haben. Muta tionen sin d ab e r im E x p e rim en t auch durch tiefgreifende
Verän d e ru n g en d e r Umweltsbedingungen erzeugt worden (vgl. S. 177); und in Ü bereinstimm
ung d am it konnte in a lle r jü n g ste r Zeit J o l l o s (1930, 1931) die bedeutsame F eststellung
machen, daß bei g leichmäßig sich a u f m eh re re Generationen erstre ck en d e r E inw irk u n g
d urch erhöhte T em p e ra tu r bei Drosophila melanogaster g e r i c h t e t e Mu ta tionen a u f tra
te n ; und zwar sind diese Mu ta tionen gerichtet, n ich t weil sie eine „A n passung“ an w irk same
Umweltsfaktoren e rkennen lassen, sonde rn weil sie d u rch eine deutliche A u f e in an d e rfolge
„sich in ih re r Au sw irk u n g g leichsinnig v e rs tä rk e n d e r M u ta tionen“ in E rscheinung
tre ten . Demnach sind orthogenetische E ntw ick lu n g sre ih en ganz zweifellos a u f einseitig
gerich te te Muta tionen zurückzuführen.
Obwohl w i r k l i c h e x a k t e Beispiele fü r orthogenetische E n tw icklungsreihen, die
eine gerich te te V e rän d e ru n g irgend eines Merkmals in z e i t l i c h e r A ufeinanderfolge m it
S ich e rh e it e rkennen lassen, n ic h t allzu häufig sind, is t m an doch zu r Annahme berechtigt,
daß g erade die Orthogenesis bei d e r stammesgeschichtlichen E n tw ick lu n g d e r T ie rwelt
eine seh r bedeutsame Rolle spie lt. Zahlreiche paläontologische u n d vergleichend-anatomische
T atsachen sprechen jedenfalls d a fü r. Aber auch d e r System a tik e r, d e r eine gerich te te
V e rän d e ru n g ein e r E ig en sch a ft bei räum lic h nebeneinande r lebenden, ganz kontin u ie rlich e
„R assenketten“ bildenden Fo rm en beobachtet, wird in vielen F ä llen k aum fehl gehen, wenn
e r die E n ts teh u n g dieser F o rm en re ih en a u f orthogenetische Mu ta tionen z u rü ck fü h rt. Aus
solchen Ra ssenketten k a n n die räum lich e Sonderung zwar zuweilen einzelne Glieder h e rausschneiden;
d e r C h a rak te r einer orthogenetischen E n tw icklungsreihe w ird ab e r trotzdem
oft e rh a lten bleiben.
Offenbar sind auch u n te r in su la ren R e p tilien orthogenetische V a ria tio n en weit v e r b
re ite t. Bei In se ltie ren müssen ja g e rad lin ig v e rlaufende V e rän d e ru n g en besonders häufig
zu exzessiven T ypen fü h ren , weil der negative Selektionswe rt v ie le r ins E x trem g e triebener
E igenschaften a u f In se ln — im Gegensatz zum Festlan d e , wo die Orthogenesis n ich t selten
zum U n te rg an g g anzer Stämme g e fü h rt haben mag — sich g a r n ich t geltend machen kan n .
So scheint beispielsweise die Steig e ru n g der in su la ren Schw a rz fä rb u n g — das g ilt auch
fü r manche Zeichnungsmerkmale — n ich t n u r m u ta tiv v o r sich zu gehen, sonde rn o ft auch
orthogenetisch. Namentlich gewisse m ed ite rran e In se lra ssen d e r G a ttu n g Lacerta lassen
sich zu re ch t anschaulichen E ntw ick lu n g sre ih en au fstellen, die eine g e rad lin ig v erlaufende
S te ig e ru n g des Melanismus von kaum nachgedunke lten F ormen üb e r halbmelanistische zu
extremen Nigrinos au fs deutlichste erkennen lassen. Bei d e r Tendenz zu r V e rk le in e ru n g der
Schuppen u n d Verm eh ru n g der Schuppenzahlen d ü rfte n ebenfalls orthogenetische V a r ia tionen
eine wichtige Rolle spielen. Ab e r auch fü r manche a b e rra n te Ausmaße, wie sie u n te r
inselbewohnenden Rep tilien n ich t eben se lten Vorkommen, sin d ohne Zweifel o rthogenetische
Vorgänge v e ran tw o rtlich zu machen.
Nich t jedem Lebewesen im gleichen Maße eigen is t die F ä h ig k e it V a ria tio n en zu e r zeugen;
jed e r S y stem a tik e r is t m it d e r E rs ch e in u n g wohl v e r tra u t, daß neben v a riab len
A rten es auch solche gibt, die sich d urch eine weitgehende Konstanz auszeichnen. Das
d eu te t d a ra u f hin, daß die Geschöpfe wäh ren d ih re r phylogenetischen E n tw ic k lu n g sich
n ich t durch eine gleichmäßige V a ria tio n sfäh ig k e it auszeichnen, sonde rn daß die V a r i a b
i l i t ä t a n b e s t i m m t e P e r i o d e n g e b u n d e n ist. Da n u n die allgemeine V a ria tio n sb
re ite bei extremen In selformen fa s t immer gan z erheblich k le in e r zu sein pflegt als bei
weniger differenzierten, so könnte man d a ra u s schließen, daß die V a ria tio n sfäh ig k e it
immer g e rin g e r wird, je s tä rk e r sich eine E n tw ic k lu n g sric h tu n g ihrem E n d p u n k te n ä h e rt;
u n d es w ä re denkbar, daß die V a ria tio n sfäh ig k e it ganz a u fh ö rt, wenn dieser E n d p u n k t
einmal e rre ic h t ist. Schon Mo r i t z W a g n e r ä u ß e rte sich d a rü b e r m it folgenden Worten
(z itie rt n a ch 1889, S. 292): „Alte rn d e A rte n . . . v e rlie ren allmählich die V a ria tio n sfä h ig k
e it, äh n lich wie das In d iv id u um im G reisena lter seine Z eu g u n g sk ra ft einbüßt. Em ig ran ten
von solchen a lte rn d en oder erlöschenden A rte n bleiben, auch wenn sie vom Wohngebiete
d e r S tam m a rt räum lic h ausscheiden, in ih rem morphologischen B au u n v e rä n d e rt.“
Ähnliche Gedankengänge h a t d an n R o s a in se iner S c h rift „La riduzione p ro g re s siv a
della v a r ia b ilità “ (1899) zum A usdruck geb ra ch t. Seine Theorie, die z.B. von P l a t e (1904)
abgelehnt, von A b e l (1929) an e rk a n n t wird, besagt, daß im Laufe der Stammesgeschichte
die V a ria tio n sfäh ig k e it ein e r Species sich aus in n e ren Gründen immer mehr v e rrin g e re
und d an n völlig a u f höre; als Folge davon müsse die A r t aussterben. Die E rfa h ru n g e n an
in su la ren R e p tilien lehren, daß das R o s a sehe Gesetz fü r einige spe zialisierte Fo rm en in
d e r T a t zuzutreffen scheint: n amentlich gewisse a lte rtüm lich e A rte n (Sphenodon, manche
Haftzeher) scheinen d a fü r zu sprechen, daß die V a ria tio n sfäh ig k e it begrenzt sei. Diesen
Fo rm en stehen ab e r n ich t wenige an dere gegenüber, die zwar eine deutliche, orthogenetisch
bedingte V e rrin g e ru n g d e r allgemeinen V a ria tio n sb re ite e rkennen lassen, denen m an aber
eine F äh ig k e it, V a ria tio n en zu erzeugen, d u rch au s n ich t absprechen kan n . So haben beispielsweise
die riesigen L and sch ild k rö ten d e r G a ttu n g Testudo, die a u f In se ln des In d ischen
u n d Stillen Ozeans leben, tro tz ih re r extrem en Differenzierung noch eine weitgehende
Neigung z u r Bild u n g zahlloser L okalra ssen oder selbst A rten . Genau das gleiche
g ilt auch fü r die großen, seh r a lten Leguane d e r Ga ttu n g Cyclura u n d viele an d e re In se lformen.
Un d ebenso g laube ich a u f das bestimmteste annehmen zu d ü rfen , daß eine extrem
melanistische Inselechse d e r G a ttu n g Lacerta n a ch einem ern eu ten Z erfall ih re s A re a ls in
E ilan d e sich weiter in Rassen a u f sp a lten k an n ; ja , es e rsche int m ir n ic h t ausgeschlossen,
d aß u n te r besonderen Umständen auch eine se k u n d ä re A u fhellung ih re s F a rb k le id e s möglich
ist. Wenn also d e r von R o s a ausgesprochene Satz eine generelle Gültig k e it h ä tte , so
wäre man b e re ch tig t au s d e r fehlenden V a r ia b ilitä t einer Species d a ra u f zu schließen, daß
sie zu ein e r Weiterdiffe ren z ie ru n g n ich t meh r b e fäh ig t sei. Das w ä re ab e r in vielen F ä llen
sicher ein T rugschluß: denn man d a r f n ic h t vergessen, daß es im L au fe d e r stammesgeschichtlichen
E n tw ick lu n g auch viele Genepistasen — H altestellen — gibt.
Es is t also sicher, daß manche Organismen im L au fe ih re r phylogenetischen Ausbild
u n g zwar zu r V e rrin g e ru n g ih re s V a riationsvermögens neigen, das sich in einigen
F ä llen soga r ganz erschöpfen u n d — bei plötzlicher Ä n d e ru n g der Umweltsbedingungen
etwa — zum völligen U n te rg an g e d e r A r te n fü h re n k an n . Au f d e r an d e ren Seite g ib t es
a b e r auch zweifellos n ich t wenige Formen, die tro tz ih re r ex tremsten Differenzierung
(z. B. Chamäleons, Blind- und Seeschlangen) die V a ria tio n sfäh ig k e it keineswegs völlig
einbüßen; sie k a n n n u r zuweilen erheblich re d u z ie rt sein, wenn ein bestimmtes S tad ium des
Entwicklungsprozesses e rre ic h t ist. Trotz d e r v o rh andenen V a ria tio n sfäh ig k e it werden
ab e r diese T ie re —• un d das g ilt n a tu rg em äß auch fü r alle extremen Inselfo rmen infolge
ih re r Spezialisierung k aum jemals imstan d e sein, eine ganz neue p h y letische Stu fe in der
Stammesentwicklung zu e rre ichen. — Das Variatio n sv e rmö g en einseitig d ifferenzierter
Fo rm e n k a n n ich n ich t fü r identisch e rk lä re n m it d e r sogenannten senilen V a r ia b ilitä t,
die ste ts ein Zeichen ein e r E n ta rtu n g ist, indem die einzelnen V a ria n te n oft schon degenera
tiv e E igenschaften aufweisen. Au f d e ra rtig e V a ria tio n en — die w ir n amentlich d urch