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 bipolar g e rich te te  V a r ia b ilitä t  verschiedener Merkmale  bei  in su la ren  Reptilien  
 lä ß t  ja   den  Schluß  zu,  daß  die  V a ria tio n en   a u f  In se ln   sich  n ich t  n u r   durchzusetzen  v e r mögen, 
   je  nachdem  sie  nützlich  oder  schädlich  sind,  sonde rn  je  nachdem  es  ih re   E rb lic h k 
 e it  bestimmt.  Besonders  bei  d e r  A usbildung  rassensche idender Merkmale  scheinen  sehr  
 oft  nich t Selektionsvorgänge,  sonde rn die Dominanzverhältnisse d e r Gene die bedeutsamere  
 Rolle  zu  spielen:  denn  re in   selektionistisch  lassen  sich  zu r  Zeit  seh r  viele  in su la re   Merkmale  
 d e r Reptilien, die z. B.  a u f le ich te r Divergenz  d e r  Schuppenzahlen  bei  Schlangen  und  
 Eidechsen  oder  der  Fo rm  d e r  Rückenschale  bei  S childkröten  oder  selbst  a u f  sp ru n g h a fte r  
 Ausbildung  g re lle r  F a rb tö n e   bei  manchen  Inselechsen  beruhen,  n ic h t  e rk lä re n .  Bei  sehr  
 kleinen  Insel-Populationen,  in   denen  sich  eine  meh r  oder  m in d e r  s ta rk e   In zu ch t  geltend  
 macht,  t r i t t   oft  üb e r  k u rz   oder  lan g   eine  immer  zunehmende  Homozygotie  ein;  dad u rch   
 w ird  das A u ftre ten  rezessiver P h än o ty p en  begün stig t,  was  besondere  Be achtung  verd ien t,  
 fa lls  sich  der Melanismus  wenigstens  bei  einem  Teile  d e r  in su la ren   R e p tilien   als  rezessiv  
 erweisen  sollte.  Voraussetzung  fü r   eine  restlose  V e rd rä n g u n g  d e r S tammform  ohne Selektio 
 n  durch   die Mutan ten   sind  a lle rd in g s  au ch  n ich t die Dominanzverhältnisse der letzteren,  
 sondern  ein  hoher  M u t a t i o n s k o e f f i z i e n t   —  die  V e rh ä ltn isz ah l  der  in   ein e r  P o p u lation  
 au ftre ten d e n   identischen  M u tan ten   zu  den  u n v e rän d e rten   In d iv id u e n   — :  dan n   
 werden  die Mutan ten   ih re  Ausgangsform, mögen  sie  einen S elektionswe rt  haben  oder  ab e r  
 ganz  indiffe ren t  sein,  gleichsam  verschlingen.  Der  von S t r e s e m a n n   (1923,  S.  130)  m itgeteilte  
 F a ll d e r V e rd rä n g u n g  der S tammform von  Accipiter  novae-hollandiae,  einem  indoa 
 u s tra lisch en   Sperber,  durch  seine  leuzistische  —-   d ah e r  auch  offenbar  schlechter  geschützte  
 ***- Muta tion  in   A u s tra lien   und  v o r  allem  in   T asmanien  is t  allem  Anschein  nach  
 g e rad e   durch   den  hohen  Muta tionskoeffizienten  zu  e rk lä re n . — Wie  im  n ächsten  K ap ite l  
 noch  zu  zeigen  sein  wird,  k an n   u n te r   besonderen  Umständen  die  Selektion  au ch   ganz  
 kleinen,  sporadisch  au ftre ten d e n   M u ta tio n ssch ritten   gegenüber  machtlos  sein,  nämlich  
 solchen,  die  sich  orthogenetisch  summieren. 
 Was  n u n   noch  die  g e s c h l e c h t l i c h e   Z u c h t w a h l   betrifft,  a u f  die  W e i s m a n n   
 (1913,  2,  S.  251)  bei  d e r  E n ts teh u n g   von  In selformen  Gewicht  legt,  indem  se iner  Ansicht  
 nach  die  Sexualselektion  manche  V a ria tio n en   ste ig e rn   soll,  so  g laube  ich  nicht,  daß  ih r   
 beim  in su la ren   Formenwandel  d e r  R e p tilien   irg en d   eine  Bedeutung  zukommt:  g e rad e   bei  
 den  Inselechsen  haben w ir  ja   gesehen,  daß  die  sek u n d ä ren   Geschlechtsmerkmale  eine  Tendenz  
 zu r  Reduktion  zeigen.  Ü b e rh au p t  v e rm ag   ich —  a u f  Grund  von  Beobachtungen  an   
 vielen  K rie ch tie ren   in  Gefangenschaft  wie  im  Fre ileb en   —  mich  d e r  A nsicht  d erjenigen  
 F orscher,  die  a n   ein e r  sexuellen  Selektion  im  darwinistischen  Sinne  festh a lten ,  n ich t  in   
 allen   F ä llen   anzuschließen.  So  sehe  ich  in  den  re in   ornam en ta len   Geschlechtsmerkmalen  
 d e r  Männchen  in   d e r  H au p tsa ch e   nich ts  anderes  als  Arterkennungs-Merkmale;  sie  sind  
 besonders  d o rt  wichtig,  wo  g roße  Ansammlungen  nahe  v e rw an d te r  A rte n   den  gleichen  
 Lebensraum  bewohnen.  So  h a t  z.  B.  jede  d e r  so  zahlreichen  Anolis-Arten  a u f  den  Großen  
 An tillen   einen  abweichend  g e fä rb ten   Kehlsack  im  männlichen  Geschlecht,  während  die  
 Weibchen  ih re   nah e  Ve rw an d tsch a ft  d u rch  eine weitgehende Übereinstimmung im H ab itu s  
 und  in   der  F ä rb u n g   bekunden;  genau  die gleiche E rsch e in u n g  is t auch von manchen Vogel-  
 A rten   bekannt.  A u f  kleinsten  Inseln  dagegen,  die  n u r   von  ganz  wenigen  A rten   bewohnt  
 werden,  ist dieser Geschlechts-Dimorphismus überflüssig;  und w ir  haben  ja   auch feststellen  
 können  (vgl. S. 95),  daß  er  bei manchen  Inselechsen meh r  oder weniger  deutlich  schwindet.  
 In   diesem  Zusammenhänge  sei  auch  d a ra u f   hingewiesen,  daß  u n te r  den  Vögeln  viele 
 F ormen  m it  ex trem ste r  Ausbildung  des  Geschlechts-Dimorphismus —   so  z.  B.  P a ra d ie s vögel, 
  K o lib ris u n d  manche Hühnervögel — eine  auffa llen d   g e rin g e   physiologische D iv e rgenz  
 u n te re in a n d e r  aufweisen,  indem  bei  ihnen  n ich t  n u r   Art-,  sonde rn  soga r  Gattungs-  
 B a sta rd e   besonders  häufig  Vorkommen;  fü r   P a rad ie sv ö g e l  h a t  kürzlich  S t r e s e m a n n   
 (1930)  eine  lan g e   L iste   d e r  G a ttungs-Hybriden  veröffentlicht.  Ve rm u tlich   hab en   sich  bei  
 diesen Fo rm en   die  so  au ffa llenden P ra c h tk le id e r  der Männchen  entwickelt, um  die geringe  
 physiologische  Divergenz  zu  kompensieren:  d.  h.  um  die  E n ts teh u n g   d e r  Hyb rid en   möglich 
 st  zu  erschweren.  Dabei  w ürde  also —  im  Gegensatz zu r A u ffassung Da rw in s  n ich t  
 d e r  Schmuck  als  solcher  einen  Selektionswe rt  haben,  sondern  seine  artspezifischen  
 Merkmale. 
 3.  Orthogenetische Variationen. 
 Vergleicht  man   verschiedene  In se lra ssen   irgend  eines Formenkreises mite in an d e r,  so  
 lassen  sich  n ic h t  selten  k o n tin u ie rlich e   Rassen-Reihen  zusammenstellen,  die  bei  den  e in zelnen  
 Rassen eine schrittweise v o r sich gehende S te ig e ru n g  verschiedener In se lv a ria tio n en   
 nach  ein e r  bestimmten  R ich tu n g   h in   au fs  deutlichste  e rkennen  lassen.  Das  g ilt  fü r   die  
 m an n ig fa ltig s ten   Größen-  u n d   H ab itu s-V a ria tio n en   im   gleichen  Maße wie  fü r  Schuppen -  
 u n d   Schilderzahlen  oder  fü r  F ä rb u n g s-  u n d   Zeichnungsmerkmale.  Auf  die W irk u n g   der  
 Selektion  kommt  es  dabei  g a r   n ic h t  einmal  an:  den n  es is t ganz gleich,  ob  diese g e richteten  
 V a ria tio n en   einen Selektionswe rt haben  oder  ab e r  gänzlich  indifferent  sind. 
 Man  pflegt  eine  d e ra rtig e   B e ibehaltung  d e r  einmal  eingeschlagenen  E ntw ick lu n g srich 
 tu n g , m ag   sie Beziehungen  zu r  Lebensweise  h aben  oder  nicht,  a ls  O r t h o g e n e s e   zu  
 bezeichnen.  Obwohl  dieser Begriff  in   die  biologische L ite r a tu r  zu e rst von H a a c k e   (1893)  
 e in g e fü h rt worden  ist,  wurden  orthogenetische E ntw icklungsvorgänge e rs t d urch E i m e r s   
 eingehende  S tu d ien   (1897)  allgemeiner  bekannt;  E i m e r   fa ß te   die Orthogenese  alle rd in g s  
 im  re in   lama rck istisch en   Sinne  au f,  indem  se iner  A nsicht  nach  bestimmte  Organe  durch   
 Gebrauch  oder N ichtgebrauch  nach  ein e r  b e stimmten  R ich tu n g   ab g e än d e rt  werden.  Aber  
 schon  v o r  H a a c k e   und  E i m e r   haben  verschiedene Fo rsch e r  orthogenetische Vorgänge  
 in  der organischen N a tu r  e rk an n t: so v o r allem N a e g e  1 i  (1884)  u n d   D ö d e r l e i n   (1888);  
 ja   selbst  D a r w i n   w a r  m it  V a ria tio n en ,  die  in   einer  bestimmten  R ich tu n g   verlau fen ,  
 v e rtra u t. 
 Die  Orthogenesis  s te h t m it  den  E rfa h ru n g e n   d e r  exakten  E rblich k e itsleh re ,  d aß   die  
 Muta tionen  „ richtungslos“  oder r ic h tig e r  „v ielseitig g e ric h te t“  au ftre ten , in  keinem W id e rspruch. 
   E in   in   b e stimmter  R ich tu n g   v e rlau fe n d e r  orthogenetisch e r  Vorgang  lä ß t  sich  
 nämlich  zwanglos  d a ra u f  zu rü ck fü h ren ,  daß  eine Gen-Veränderung  du rch au s  n ich t un b e d 
 in g t  a ls  ein  einziger  „S p ru n g “  im  L au fe   des Lebens  eines  In d iv id u um s  v o r  sich  zu  gehen  
 b rau ch t;  vie lm eh r  k a n n   sich  dieser  Vo rg an g   in   sehr  viele  „S c h ritte “  auflösen  u n d   sich  
 d am it  a u f  u ngeheuer  zahlreiche  Generationen  verte ilen .  E in e   orthogenetische  V a ria tio n   
 b e ru h t  also  zweifellos  a u f  einer  solchen  von Generation zu Generation ste tig  fo rtsch re iten den  
 V e rän d e ru n g  eines Gens, die vor allem q u a n tita tiv e r  N a tu r  sein wird.  A u f diese Weise  
 können verschiedene E igenschaften ins E x trem   g e ste ig e rt werden,  wobei  infolge  exzessiver  
 E ntw ick lu n g   d e r  u rsp rü n g lich   vielleicht  d u rch au s positive S elektionswe rt eines Merkmals  
 in   sein  Gegenteil  Umschlägen  kan n . Wie  fü r   eine  Muta tion  is t  au ch   fü r   die  Orthogenese  
 völlig  gleich,  ob  die  genotypische  V a ria tio n   nach  der  Plus-  oder  n a ch   der  Minusseite  e r folgt: 
   eine  E ig en sch a ft  k a n n   sich  orthogenetisch  ste ige rn,  sie k a n n   a b e r  au ch  —  nachdem  
 sie  vielleicht u rsp rü n g lich   als  eine  einzige S p ru n gm u ta tio n   in   E rsch e in u n g  g e tre ten   is t —-+  
 im L au fe  d e r Stammesgeschichte ganz langsam wieder  schwinden.