
AN DIE GRENZE YON TIBET 1915
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WINTER IN YÖNNANFU
Die deutsche Gemeinde. — Rückkehr C. SCHNEIDERS. — Feinde und Neutrale. — Die
Natur der Umgebung.
DIE deutsche Gemeinde in Yünnanfu hatte sich um mehrere Flüchtlinge
aus Tonkin vermehrt, Herrn H ieber von der Firma S peidel & Co.
in Haiphong und Herrn S tutzke, der dort den Maschinenbetrieb einer
Reismühle geleitet hatte, dann war Herr T reptow von der British &
American Tobacco Co. jetzt ständig in Yünnanfu; auch eine Deutschschweizer
Familie, Herr Otto S choch mit Frau und zwei Kindern, war aus
ähnlichen Gründen von Tonkin heraufgekommen, von Mengdse aber
Frl. F ense, die des Konsuls Kinder betreute, und ein Österreicher, Herr
P a w e l k a , Beamter im chinesischen Seezoll, der mir als ehemaliger Kavallerieoffizier
durch seine Pferdekenntnis noch manchen Mißgriff ersparte. Auch
Konsul Fritz W e i s s und Familie führten ein gastfreies Haus, und so gab
es keine Langeweile. Der Mittelpunkt aller Unterhaltung war natürlich die
Kriegslage. Durch den deutschen Überseedienst erhielten wir die deutschen
Nachrichten selbst, und ihr Vergleich mit den feindlichen ließ die Lage ja
natürlich als viel besser erkennen, als ich bisher hatte ahnen können.
„Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“ schwankte die Stimmung, für
mich aber war die ganze Sache, doch durchaus traurig genug. Ich suchte
meine Befriedigung nach wie vor in der freien Natur, soweit mir das
Entwickeln der 1100 Aufnahmen, Ausziehen der Tagebücher und andere
Vorarbeiten an meinen Ergebnissen dazu Zeit ließen. Da mein gelb weiß
geschecktes Pony so plumpe Gänge hatte, daß es unmöglich zu Vergnügungsritten
zu brauchen war, verkaufte ich es mit den Karawanentieren
und behielt das dem Mafu abgekaufte, einen starken und flotten,
nur gar kleinen Braunen. Als zu Weihnachten Herr S c h n e id e » nach einer
Reise von Dali an den Salwin bei Pupiao über Schunning und Yimön zurückkam,
überließ er mir den nicht unansehnlichen Grauen, der anfangs
Li und auf der Rückreise ihn getragen hatte; für mein Gewicht erwies er
sich leider später auf die Dauer nicht kräftig genug, doch hat er die nächste
Reise ins Gebirge ausgehalten. Fern der Heimat feierte ich bei S tiebritz
den zweiten Weihnachtsabend meiner Reise. Ein langnadeliger Kiefem-
baum vertrat in nicht sehr befriedigender Weise den Tannenbaum; später
brachte ich dazu Keteleeria in Anwendung. Ja, wer hätte damals geahnt,
wie viele Weihnachtsbäume ich noch in China holen werde! G. S chneider
verließ uns wieder um Neujahr und reiste mit S tutzke ' nach Suifu und
auf dem Yangdse abwärts nach Schanghai, von wo er sich nach
Amerika einschiffte, um die ihm angebotene, Stelle am Arnold Arboretum
10. WINTER IN YÜNNANFU *
anzutret.en. Daß ich mit ihm in brieflicher Verbindung bleiben konnte,
erhöhte wesentlich meine wissenschaftlichen Erfolge im Lande. Wie niemals
ein Krieg so sehr die persönlichen Beziehungen der Einzelnen zueinander
beeinflußt hat wie dieser, so wurde auch in China das Verhältnis zu den
Angehörigen der alliierten Völker immer gespannter; anfangs grüßte man
auf der Straße die früheren besten Freunde' noch, dann fuhr man nur
mehr mit dem Finger an den Hut, später nickte man noch mit dem
Kopfe, und schließlich sah jeder auf die andere Seite. Mit den französischen
Missionären konnte ich noch länger verkehren, auch der Arzt
Dr. V a d o n , der sofort wieder in sein Opiumrauchen verfiel, als er nach
Vollendung einer Kur dagegen von Paris zurückkehrte, vergaß seine
Menschenpflicht nicht, impfte uns alle, als , die Pocken in Yünnanfu stark
auftraten, und hat es nie abgelehnt, mir die für die weitere Reise nötigen
Heilmittel zu verkaufen. Von Neutralen waren damals nur noch wenige
Amerikaner, ein Schwede bei der Post, und der norwegische Missionär Eduard
A m u n d s e n , der einzige, der mit uns wie mit den anderen verkehrte, eine
tatsächliche Neutralität, die ihn später, da er in der englischen Bibelgesellschaft
war, auf Anstiften des Generalkonsuls Goffe seine Stellung kostete.
Von Yünnanfu aus gingen meine Ritte jeden zweiten Tag oder nach
den Wetterlaunen auch seltener auf einige Stunden in die Berge der
Beckenumrahmung. Dort gibt es, die wenigen Tage, an denen etwas
Schnee liegt, ausgenommen, den ganzen Winter hindurch einzelne Blüten
zu finden. Manche Ausflüge machte ich mit Herrn S c h o c h , einem
glänzenden Fußgänger, der großes Interesse für Botanik bewies und im
Sommer 1915 selbständig ungefähr 400 Arten sammelte, deren einen
Satz er mir für die Bestimmung überließ. Wenn auch die nähere Umgebung
mit Ausnahme der Tempelwäldchen sehr kahl ist, so gibt es
doch, besonders in den Farben, Stimmungen, die hohen Genuß bieten.
Gerade die Waldlosigkeit ist es, welche den Aufbau der Berge von ferne
erkennen läßt an der Lagerung und den Krümmungen der Schichten, und
solche Anblicke sind für den Naturforscher auch erfreulich. Im Nordwesten,
westlich von Butji, sieht man eine graue Kalkbank beinahe zu
einem Kreise zusammengerollt, der Tschangtschuüg-schan im Norden
der Stadt zeigt Senkrecht aufgestellte, nordnordost—südsüdwestlich
streichende, zu Karren und Reihen von Köpfen und Türmen, die wie
Fischgräten aufragen, verwitterte dunkelgraue Kalkbänder in großer Zahl
nebeneinander, zwischen vulkanischem Gestein eingelagert und in seinem
tieferen Teile überdeckt von ihrem grellroten Verwitterungsprodukt, der
terra rossa. Diese Schichtfolge ist durch die Ebene abgesunken und tritt
jenseits des Sees wieder heraus in den wilden Karrenfeldern des Hsi-
schan-Rückens, der nach Osten mit einer senkrechten Bruchwand abfällt.