
Bergen möglichst nahe zu kommen, bog ich in ein rechtes,, mit der
Kette gleichlaufendes Seitental, dessen Weg, wenn auch steinig und naß,
zwischen -Loiana-bedeckten Weidengebüschen, Tannenwald und Wacholderbäumen
ganz' gut gangbar ist. Auf einer größeren, flachen, Pedicularis-
bestandenen Matte war es mir noch zu früh zum Lagerschlagen, dann
aber zog sich der Weg, es fand sich kein einigermaßen freier Platz
imd es begann zu dämmern, so daß ich schon ans Rückkehren zu jener
Ebene gedacht hätte, wenn nicht ein Tibeter, der vom Holzfällen kam,
uns auf unsere Zeichen Mn doch nach aufwärts verwiesen hätte. Bald
fand sich auch tatsächlich eine leidliche schmale Fläche und ich schlug
in der Dunkelheit und dem unausbleiblichen Regen in 3880 m Höhe
das Zelt auf. Abends und morgens war die Temperatur hier + 6 ° Celsius.
Am 11. August, dem Jahrestage der für mich denkwürdigen Ersteigung
des Meleto-Dagh in Kurdistan, galt es also, endlich etwas wirklich Hochalpines
zu unternehmen. An der Waldgrenze, 4125 m, liegen einige Hirtenhütten.
Reichlich finden sich in der Umgebung die beiden straucMgen
Fingerkräuter, die gelbe Potentilla fruticosa und die weiße P. Veitchü,
dazwischen wächst wieder eine andere hohe Goldkolben-Art, ähnlich den
oben erwähnten ährigen, aber mit zu breiten Ebensträußen angeordneten
Körben, Ligularia cymbulifera. Viele Leute waren in die Schutthalden,
Wurzeln zu graben, gegangen, andere noch höher, ihre Jak zu hüten.
Mehrere Schuttkessel sind von verwitterten Kalkzinnen umstanden, doch
fast alle Spitzen sind in Wolken, nur einmal da, einmal dort wird eine
frei, es war unmöglich zu sagen, welches die höchste sei; um viel ver-
scMeden sind sie sicher nicht. Wo Mer in einer Eiszeit ein Gletscher
gelegen hat, erkennt man auf den ersten Blick an der Moränenlandschaft
seiner Zunge und den Rundhöckern des Firnbeckens. Ich strebte einmal
dem höchsten Passe zu, den ich sah. Die Pflanzenwelt der Schutthalden
ist sehr schön: Großblütiger Medriger Lärchensporn (Corydalis hemidicentra,
neu) bildet, aus einer tiefliegenden, dicken Wurzel entspringend und seine
zahlreichen, dünnen Stämmchen zwischen den Schottersteinen durch-
scMebend, lockere, niedrige Rasen mit dreiteiligen, seegrünen, der Halde
angedrückten Blättern, die gelbe Potentilla articulata dicke Medrige Polster
mit linealen aufrecht parallelen Abschnitten ihrer dreiteiligen Blätter, Primula
dryadifolia kleinere aus Rosetten unserer Silberwurz tatsächlich ganz
ähnlicher Blätter, wenig überragt von den mehrere ansehnliche purpurrote
Blüten tragenden Schäften, gelbe Saxifraga drabiformis lockere Polster,
Arenaria Lichiangemis mit weißen Blüten erinnert an .orientalische Arten
der Gattung und die Carex firma der Alpen im Aussehen vertretende
neue Cobresia Stiebritziana ist eine unscheinbarere Polsterpflanze;
dazwischen nicken die neuen Arenaria Weissiana und Fridericae und
Schmetterlingsblütler; die Liliazee Aletris Nepalensis und Polygonum
sphaerostachyum sind Typen, die von tieferen Lagen bis Merher durchgehen
; mehrere Arten Meconopsis sind einzeMstehende, aber * oft auch
vielstengelige, niedrige und auch sehr hohe Stauden mit blauen nickenden
Mohnblüten. Noch schöner ist die Flora der Schneetälchen, jener Mulden,
in denen sich der Schnee länger gehalten hat und durch seine Verwitterungstätigkeit
humösen Boden erzeugte, der vom Weggeschwemmtwerden
bewahrt ist; dort findet sich zunächst in großen Mengen die
winzige neue Primula cyclostegia, ein Seitenstück zur Pr. minima der
Alpen, aber einzeln stehend mit noch viel kleineren, unterseits gelbmehligen
Blättern und blauvioletten Blüten, dann die Primula lepta, die in ihrem
Blütenstand an eine Traubenhyazinthe erinnert, . ein winziger, meist nur
zentimeterhoher, auch neuer Hahnenfuß (Ranunculus micronivalis),
Sibbaldia parviflora, die Zwergweide Salix Lindleyana und anderes, an
ihren Rändern, wo noch die letzten Rhododendron cremnophilum-Str&achiem
sie einfassen, zwischen Lebermoospolstern die ansehnlichen, dunkel braun-
violetten, nickenden, glockenförmigen Körbe des Cremanthodium campa-
nulatum auf kurzen Schäften über einer Rosette alpendostähnlicher Blätter.
Auf der Höhe des Sattels (etwa 4650 m), jenseits dessen an der Nordostseite
einige kleine, vielleicht wirklich ausdauernde Schneeflecken liegen,
war die Schuttflora noch kaum ärmer, aber von zunehmendem Interesse;
zwischen goldenen Moospolstern (Tetraplodon urceolatus, Barbula asperi-
folia) steht Wahlbergelia apetala, ein Leimkraut mit kugelig aufgeblasenen
Kelchen, ein winziges neues Läusekraut (PediculUris parvifolia),
dann, unserer zweifarbigen P. Oederi ähnlich, die ebenfalls neue
P. pseudoversicolor, die über einem allem Ausgraben trotzenden Wurzelstock
Rasen liildende, in Lidjiang entdeckte Kreuzblütlergattung Solms-
Laubachia pulcherrima mit breiten, 10 cm langen, dem Boden aufliegenden
Schoten, und Saussurea leucoma, in dünne Wolle gehüllt, mit kurzem,
dickem, säulenartigem, dicht mit fiederschmttigen Blättern besetztem Stengel,
der mit einem scheibenförmigen Knäuel aus violetten Blütenkörben endet.
Die Gipfel umhüllten sich wieder mehr und versprachen nicht mehr Aussicht
als der erreichte Sattel, und ich zog es daher vor, ersprießliche bo-
tamsche und trotz des kalten Windes wohlgelungene autochromphotographische
Tätigkeit zu entfalten, statt die Fünftausend zu erreichen und
zu anderer Tätigkeit nicht mehr Zeit zu haben. Zum Rückwege steuerte
ich den Lärchen zu, die an der anderen Seite des zum Lager hinab-
fülirenden Tälchens in 4250 m Höhe die Baumgrenze bilden, und stieg
erst von dort durch neuerlich gute Ausbeute bietende Schutthalden hinab
an den Bach, dem entlang an moorigen Stellen die Potentilla Veitchü mit
ihren nickenden weißen Glocken, besonders schön entwickelt war und