
Gegen Abend noch besuchte ich den oberen Teil des Waldes, der.
etwas weniger hochwüchsig und mit viel Stangenholz, größtenteils aus
Cupuliferen, darunter einer Rotbuche (Fagus longipetiolata), besteht. Der
nächste Tag war genauerer Untersuchung der schon begangenen Strecke
gewidmet, und das vorzügliche Ergebnis bestimmte mich, den geplanten
Aufenthalt hier oben um zwei Tage zu verlängern. Die Buschwiese, die
alles außerhalb des Waldes überzieht, stand in Blüte. Rote Schmetterlingsblütler
sind die Sträucher darin, hohe Kräuter, wenn auch nicht besonders
prächtig, so doch von auffallenden Farben, überragen die Gräser und Halbgräser:
Glockenblumen (Adenophora, Platycodon) in Blau, violettes Eupa-
torium Lindleyanum, rote Disteln, Lausekraut und Anemone Japonicg, gelber
Lattich, gelber und weißer Baldrian (Patrinia scabiosifolia und villosa),
dickährige weiße Lysimachia clethroides und Aster scaber, ganzblätterige
Artemisia anomala und andere. In den Senkungen wird der Graswuchs
hoch, ein stehender Mann verschwindet darin vollständig. Der höchste
Gipfel liegt gegen Südosten etwas vorgeschoben und erreicht 1420 m Höhe.
In gleicher Steilheit fällt der Berg nach allen Seiten ab, alle Kännne
sind ganz schmale grüne Kanten; nach dieser Seite dehnt sich ein 50 Jcm
breites Becken bis Hsimiing, von niedrigem Kalkbuckelland erfüllt, welches
gegen das im Südwesten im Halbkreis umgebende Gebirge, dessen Ende
der Yün-schan bildet, wie der Rand einer Schüssel die Schichtköpfe zu
einer beinahe zusammenhängenden flachen Furche abfallen läßt, die es
von jenem Gebirge, trennt. Unser Berg besteht aus Tonschiefer und
wohl die Gebirge im Südwesten größtenteils ebenso, während ich dann bei
Hsinning Granit fand, der von jenen der Gwanghsi-Grenze herabgekommen
war. Erst bei einem zweiten raschen Besuche, am Morgen meines Abreisetages,
als das Regenwetter beim Mondwechsel in wundervoll klares
umgeschlagen hatte, konnte ich diesen Fernblick genießen. Er reicht nach
Osten über dieses Becken hinweg bis zum Lung-schan jenseits Baotjing,
gegen Norden anschließend zu den Bergen der Gegend gegen Hsinhwa,
während im Nofdwesten die Kette jenseits der Talfurche von Wukang, die
einen Bruch darzustellen scheint, welcher das geologische 'Bild des Yün=
schan wiederholt, nur wenige fernere hohe Bergketten herübersehen läßt.
Welcher Gegend die im fernen Westen sichtbaren Gebirge angehören,
konnte ich nicht feststellen.'
Von sonstigen Ausflügen war noch jener durch den östlichen Teil des
Tälchens bis zur Waldgrenze ergebnisreich, denn dort treten an manchen
Stellen U/i m hohe Hochstauden (Saussurea cordifolia, eine Doldenpflanze,
Strobilanthes pentastemonoides, Asystasia Chinensis, Cacalia leucanthema,
Ligularia Veitchiorum mit pestwurzartigen Riesenblättem und reichverzweigtes
Eupatorium Reevesii) zu Fluren zusammen, die an jene der
yünnanensischen Hochgebirge lebhaft erinnern. Dazu kommt am Rande
der Grasfluren Boehmeria nivea, „Ramie“ oder „Chinagras“, jene Nesselart
mit unterseits schneeweißen Blättern, welche die von den Chinesen
„Be-ma“ („weißer Hanf“) genannte schöne Faser liefert. Dann ein anderer
Ausflug hinab durch den östlichen Teil des Aufstiegstalsystems. Dort fand
sich hoch auf dem Stamme eines Kirschbaumes Sorbus caloneura
epiphytisch, der mich sehr an jene Vorkommnisse im Salwingebiet erinnerte,
ein breiter Strauch mit weitausladenden, beinahe herabhängenden Ästen
und mehreren dicken, am Kirschenstamme angepreßt herablaufenden
Wurzeln. Der Abstieg durch den Graben war mühsam, gänzlich weglos,
nach abwärts immer steiler, oft kam man mit ganzen Schuttmassen ins
Rutschen; Ausblicke aus dem Wald waren unmöglich und der Graben
führte verdächtig wukangwärts, so wurde mir i n . der Aussicht, entgegen
der Angabe eines der Missionäre, der hier abzusteigen versucht hatte,
anderswo zu landen als beabsichtigt und den ganzen Berg wieder hinaufsteigen
zu müssen, recht gruselig zumute, bis die Richtung sich änderte
und ich schließlich, nach einer recht glatten Felskletterei neben einem
Wasserfalle, ober Wuli-ngan auf den Tempelweg gelangte.
Während meiner Anwesenheit war gerade der Geburtstag der Göttin
der Barmherzigkeit, Gwanyin, das Hauptfest des Yün-schan. Von •weither
kamen die Wallfahrer in Zügen, in roten, mit goldglänzenden Plättchen
besetzten Kitteln, das Schwert umgehängt, manche mit dem kleinen
Bänkchen, auf das sie alle paar Schritte niederknien lind sich bis zur
Erde verneigen. Die Missionäre benützten auch diese Gelegenheit, um
durch ihre Chinesen ihre Schriften zu verkaufen, obwohl es in den Verträgen
verboten sein soll, an Wallfahrtsorten Propaganda zu machen.
Ein alter Priester aber, der an einer Opferstelle, der „schönen Aussicht“,
dem einzigen Punkte in Tempelhöhe, von dem man Ausblick aus dem
Walde hat, beschäftigt war, sagte den Pilgern: „Diese Bücher sind schlecht,
die dürft ihr nicht lesen, sondern müßt sie verbrennen; ich habe da
gerade Feuer, werft sie gleich da hinein!“ Von den Missionären zur Rede
gestellt, gab er ihnen die treffende Antwort: „Wenn wir nach Deutschland
reisen und euren Reis essen, so würdet ihr auch nicht dulden, daß
wir eure Leute ihrem Glauben abspenstig machen.“ In der Tat, Fanatismus
ist den Buddhisten nicht eigen; es sollte bei uns einer das Gegenstück
versuchen, an einem Wallfahrtsorte! Mit dem „nicht geduldet
werden“ wäre es sicher nicht abgetan. Durch Kriege hat man den
Chinesen die Verträge abgezwungen, welche die Duldung der Missionäre
festlegen, nicht des christlichen, sondern des europäischen Einflusses
halber. Missionäre gibt es mehr denn anders beschäftigte Europäer in
China. Zuerst kommt der Missionär, dann der Kaufmann, dann der Konsul