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106 B u c h XII. Kap. 2. 10.
mächtig auch mit den aus altern Büchern angeführten Stellen verfahren
hat, so dürfen die Kritiker den Lesearten, welche sie bei
ihm finden, nicht viel trauen." Wie würde er geeifert haben,
hätte er folgende Worte des Vincentius selbst gekannt? Specul.
natur. prolog, cap. 10: „Quidam etenim, ut cum stomacho loquar,
tam fideles et cauti verborum observatores existunt, adeoque fideliter
ac sincere de quibuslibet libris sententias notabiles excerpi
volunt, ut nec minimum jota de verbis ipsius auctoris sive etiam
de verborum ordine patiantur immutari. Hujusmodi tamen cautelae
districtionem patres nostros doctores catholicos nec in antiquorum
flosculis excerpendis, nec in libris aliorum transferendis omnino
tenuisse cognovi." Nachdem sich Vincentius dann darauf berufen,
der heilige Hieronymus hätte manche Stellen des alten Testaments
mit andern Worten als die Vulgata, und doch eben so untadelhaft
wie diese übersetzt, und verschiedene Erzähler würden nicht getadelt,
wenn sie dieselbe Geschichte ein jeder mit etwas andern
Worten vortrügen, so fährt er fort: „Sic ego, licet omnis reverá
mendacii detestator, nec propriae quidem conscientiae stimulo
remordente, nec illorum calumnia deterrente: et de flosculis Aristotelis
et de ceteris, quos in hoc opere per diversa capitula inserui,
et propriis autorum nominibus annotavi. Etsiforsanex aliqua
c a u s a r um praedictarum in plerisque locis aliquid imm
u t a v e r im de superfici e vel verborum ordine: audacter
tamen et scribam et dicam, hanc et illam sententiam illius auctoris
esse, cujus scilicet nomen in titulo continetur." Auch zu philologischer
Kritik lässt sich Vincentius nach einem solchen Selbstbekenntniss
nur mit grosser Vorsicht gebrauchen. Aber unschätzbar
ist sein Werk, wie es sich selbst nennt, als Spiegel, wenn
nicht der Natur, doch der gesammten naturwissenschaftlichen Gelehrsamkeit
seiner Zeit.
Dreizehntes Buch.
Letzter von wenigen wachen Momenten unterbrochener
Schlummer der Botanik.
§. 11.
Nicht aus Mangel an StofF, sondern an Bedeutsamkeit desselben,
fasse ich den langen Zeitraum von Albert dem Grossen und
Vincentius Bellovacensis bis zum Wiedererwachen der klassischen
Studien in Italien, das heisst vom Ende des dreizehnten
b i s zur zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts,
in ein einziges Buch zusammen. Für die Geschichte der Botanik
ist mir diesCT Zeitraum, ich gestehe es, noch völlig räthselhaft.
Werfen wir einen Blick auf die geistige Entwickelung während
desselben überhaupt, so tritt uns ein ganz andres Bild als das des
Schlummers entgegen. Was war es denn, was grade unsre Wissenschaft
bis auf wenige Momente zum Stillstand brachte?
I t a l i e n war zur Wiege der sich verjüngenden Kunst und
Wissenschaft bestimmt, dorthin haben wir unsern Blick zu richten.
Die Hohenstaufen waren vernichtet, das Pabstthum hatte den höchsten
Gipfel seiner Macht erreicht, als es plötzlich die tiefste Erniedrigung
erlitt. Bonifacius VIII. (t 1303) erlag im Kampfe mit
Philipp dem Schönen von Frankreich; eine lange Reihe seiner Nachfolo
er französischer Abkunft residirte zu Avignon unter französischem
Einfluss. Gleichwohl erholte sich auch die Macht der römischeu