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lassen. Es ist die umfang- und inhaUreichste Enkyklopädie aller
Wissenschaften, AA^elclie bis dahin erschienen war, und behauptete
diesen Vorzug für lange Zeit. Die Anlage, der Plan, wonach
das Ganze geordnet ist, gehört dem Verfasser; die Art der Ausf
ü h r u n g gleicht der, welche damals so beliebt war, und M^elche
wir schon in den beiden ähnlichen, wiewohl kleinern Werken des
Thomas und des Bartholomäus kennen lernten: es ist eine Zusammenstellung
von Excerpten aus Schriftstellern der verschiedensten
Zeit und Art, der Form nach ohne alle Verbindung locker
zusammengefügt, selten von kurzen eigenen Erläuterungen und
Eeilexionen des Verfassers unterbrochen, und jedem Satz ist der
Name des Eigenthümers vorangesetzt. Das Verdienst solcher
Werke beschränkt sich daher auf drei Punkte, auf den K-eichthum
der benutzten Quellen, auf die Auswahl des Erheblichen und auf
dessen übersichtliche Zusammenstellung; in allen drei Beziehungen
übertrifft Vincentius bei weitem seine Vorgänger. Bewunde nswürdig
ist der Reichthum der Bibhothek, die ihm zu Gebot stand,
und der Fleiss, womit er sie benutzte. Nur mit Hülfe königlicher
Munificenz liessen sich solche Hülfsmittel vereinigen, und nur durch
den Beistand vieler Gehülfen war eine so unermessliche Excerptensammlung
zu gewinnen. Beides rühmt Vincentius auch mit dankbarer
Anerkennung. Die Gesammtmasse seiner Quellen, unter
denen sehr wenige damals bekannte Werke von einiger Bedeutung
fehlen, hat noch niemand zusammengestellt. Ein Verzeichniss der
Schriftsteller oder Bücher, die er allein im Spe culu m naturale
excerpirt hat, lieferte Fabr icius in seiner Bibliotlieca Graeca
vol. XIV, pag. 107—125. Es sind deren weit über 300, wobei
jedoch die mitgezählt sind, die Vincentius nur mittelbar durch
Plinius oder Andre stellenweis kannte. Auch viele lange vor seiner
Zeit untergegangene Werke citirt er so, als hätte er sie selbst
vor Augen gehabt, so dass es in manchen Fällen zweifelhaft bleibt,
ob er eine Schrift unmittelbar oder nur mittelbar benutzt hat.
Als Hauptquellen behandelt er, so weit es möglich ist, überall
die Bibel und die Ki rchenväter , nebst den damals vorhandenen
G l o s s e n zu den heiligen Schriften, die sich nicht selten
auch bei naturhistorischen Gegenständen auf kurze oberflächliche
Erläuterungen einliessen. Was diese Quellen darboten, steht durchgängig
voran, und wird als unantastbar dargestellt. Mehr Stoff
lieferten freihch die Profanscribenten, unter denen ihm manche,
namentlich A r i s t o t e l e s , D i o s k o r i d e s, P1 i n iu s, Avicenna
U . S . W , offenbar für eben so unfehlbar galten, wiewohl er sich
selbst gegen eine solche Voraussetzung sorgfältig verwahrt. Er
findet sogar ihres Gebrauchs wegen eine ausführliche Rechtfertigung
nöthig, wie schon die Ueberschriften einiger Kapitel des
Prologs zu seinem Speculum naturale erkennen lassen, cap. 8:
Apologia de dictis philosophorum et poetarum; cap. 9: Apologia
de apocrjphis; cap. 10: Apologia de modo excerpendi de quibusdam
libris Aristotelis; cap. 11: De impari auctoritate eorum, quae
excerpta sunt; cap. 12: de ordine dignitatis eorundem; cap. 13:
de libris authenticis. Im Allgemeinen beruft er sich auf das Beispiel
des Apostel Paulus, der selbst einen Vers des Menander,
des Epimenides, ein Zeugniss des Aratus nicht verschmähete, so
wie auf das des heiligen Hieronymus, der gleich ihm sich wegen
des Gebrauchs heidnischer Schriften zu vertheidigen genöthigt war.
Was aber die zu Paris durch den Pabst feierlich verworfenen physikalischen
Schriften, gleichviel ob des wahren oder vermeinten
Aristoteles betrifft, so versichert er sogar, sie nicht selbst gelesen,
sondern nur einige daraus von seinen Ordensbrüdern gemachte
Excerpte benutzt zu haben. Ob das mehr als eine Ausflucht war,
um einer Rüge der zu Paris besonders wachsamen päbstlichen
Aufsicht zu entgehen, wage ich nicht zu entscheiden. Das pseudoaristotelische
Büchlein von den Pflanzen finde ich wenigstens beinahe
Satz für Satz, jedoch zerstückelt, wieder in den Büchern des
Speculum naturale gleichen Inhalts. Möglich ist, dass sich Vincentius
auch bei der Redact ion seiner zahllosen Excerpte fremder
Hülfe bediente, wiewohl er nichts davon sagt; dass aber der
Redacteur der von den Pflanzen handelnden Bücher jene für aristotelisch
gehaltene Schrift nicht selbst gelesen und studirt hätte,
scheint mir unmöglich. Doch wie dem sei, merkwürdig bleibt,
dass zu derselben Zeit, als Albert der Grosse zu Köln die physi-
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