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6 Buch XII. §. 1.
Philosophie zu besitzen sich einbildete M. — Sechs Jahre darauf
erneuerte ein päbstlicher Legat bei Revision der pariser Hochschule
zwar dasselbe Verbot^ doch in etwas milderer Form, und verbunden
mit der ausdrücklichen Verordnung, die Dialektik des
A r i s t o t e l e s (statt welcher man sich bis dahin an die des heiligen
Augustinus gehalten hatte) solle zu Paris gelesen werden 2).
Allein auch dabei blieb es nicht: wieder sechzehn Jahr später,
1231, erklärte sogar Pabst Gregorius IX., sonst eben nicht wegen
Milde und Nachgiebigkeit bekannt, der Naturbücher (libri
naturales), welche durch das Provincialconcil verboten wären, sollten
sich die pariser Magister so lange enthalten, bis sie
g e p r ü f t und von allem Ve rda cht der I r r l e h r e gereinigt
wären; und den Dawiderhandelnden drohte er nicht mehr mit dem
Interdict, sondern mahnte sie nur an den Unwillen Gottes und der
Apostel Petrus und Paulus, den sie sich zuziehen würden Nachdem
darauf 1256 ein Legat des Pabstes Clemens IV. die strengere
Verordnung von 1215 noch einmal erneuert hatte, verordneten
endlich 136ü zwei von Pabst Urban X. zur Visitation der pariser
Hochschule abgesandte Cardinäle, dass daselbst niemand die Veniam
legendi erhalten solle, der nicht, ausser andern genannten Büchern,
auch l i b r umP h y s i c o r um, deGenerat ione et corruptione,
de Coelo et mundo, die sogenannten Parva naturalia, unc
die Me t aphys i k (des Aristoteles) gehört hätte.
Verräth nun auch diese allmälig steigende, zuletzt in ihr Gegentheil
umschlagende Nachgiebigkeit, wie wenig jene frühere Strenge
der Erwartung entsprochen habe, so bleibt es doch immer merkwürdig,
wie entschieden und öffentlich viele angesehene Geistliche,
schon gegen die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, den ganzen
Aristoteles benutzten und seine Lehre verbreiteten. Noch stand
der Beschluss der pariser Provincialsynode in voller Kraft> als
1) Man sehe darüber bei Jourdain das ganze fünfte Kapitel, Seite 202 ff.
Auf Avicenna bezieht er den im Verbot gebrauchten Ausdruck Commenta,
2) L aunoy ^ l, c, cap, 4 et 5.
3) Ibidem cap,
4) Ibidem cap^ 9.
B u c h XII. §.1. 7
A l b e r t der Grosse alle ächten oder damals für acht gehaltenen
Schriften des Aristoteles auf seine Weise überarbeitet und erläutert
herausgab, und sein Schüler Thomas Aquinas ausführliche
Commentare darüber bekannt machte. Beide, sagt man, hätten in
Köln gelebt, und sich an die zunächst für Paris erlassenen Vorschriften
nicht verbunden geachtet. Aber auch Vincentius Belle
v a c e n s i s , der Lector des Königs von Frankreich, excerpirt
den Aristoteles in seinem Speculum naturae fast Blatt für Blatt
mit der einzigen Vorsicht, dass er sagt^), er selbst hätte dessen
Schriften keineswegs excerpirt, sondern die Excerpte daraus von
einigen seiner Ordensbrüder empfangen. Dieses Räthsel meinte
Jourdain durch seine Entdekung gelöst zu haben, dass das pariser
Verbot gar nicht auf die ächten Werke des Aristoteles zu beziehen
wäre; man hätte sich nach jenem Verbot um so mehr bestrebt,
aus den ächten den Pantheismus jener unächten Schriften
zu widerlegen. Allein Albert der Grosse sowohl als auch Thomas
Aquinas erklärten beide auch das unächte Werk de Causis, welches
nach Jourdain das verbotene war, ohne es für unächt zu halten
Ich sehe also in der That keinen Ausweg, diese und andre Theologen
jener Zeit vor dem Vorwurfe des Ungehorsams gegen das
Kirchenregiment zu schützen, und finde ihre einzige Entschuldigung
in der unwiderstehlichen Macht des aristotelischen Geistes, der ich
es zugleich zuschreibe, dass die Kirche auf ihr eigenes Gebot
nicht nachdrücklicher hielt.
Nun leuchtet aber auch ein, welchen Einiluss die aristotelischen
Werke auf die damals allgemein verbreitete verächtliche
V o r s t e l l u n g vonderNatur ausüben musste. Nur die frühern,
dem klassischen Alterthum noch näher stehenden Kirchenväter,
wie vor allen, doch nicht allein, Bas i l ios der Grosse, hatten
die Natur als einen Spiegel göttlicher Weisheit angesehen und in
ihren homiletischen Schriften dargestellt; den spätem erschien sie
mehr und mehr im trüben Widerschein ihrer Teufelslehre als ein
1) Vincentii Bellovacensis speculum naturale. Prologus, cap. 10. Apologia de
modo exùerpendi ex quibusdam lihris Aristotelis.