
Wie irrig ist das in Europa hier und da bestehende Vor-
urtheil von der grossen Redlichkeit der Hochgebirgsbewohner
, wenigstens in Beziehung auf Abyssinien! Ich
brachte später fünf Monate in A n g e tk a t, dem Hauptorte
der Provinz Simen, zu, welcher 9700 französische Fuss über
der Meeresfläche, an der äussersten Grenze der von Menschen
bewohnten Höhen liegt, und hatte hier oft Gelegenheit,
Diebereien aller Art kennen zu lernen, und mich
zu überzeugen, dass das Stehlen in diesen höheren Gegenden
ein eben so gewöhnliches Laster ist, als in jedem
anderen Theile von Abyssinien.
Wegen der herrlichen, besonders durch eine üppig
wuchernde Kleeart ausgezeichneten Weide dieser Gegend
liessen wir unsere Lastthiere Tag und Nacht frei grasen.
In einer Nacht aber wurden wir plötzlich durch das Geschrei
der Esel aufgeweckt, und fanden herbeieilend, dass
eine Anzahl Hyänen unsere Thiere angegriffen und bereits
eins derselben zerrissen hatte. Wir hatten nicht geglaubt,
dass diese Raubthiere bis zu einer so bedeutenden Höhe
aufstiegen, zumal da wir auch die Rinderherden der Ein-
gebornen die Nacht hindurch auf der Weide bleiben sahen;
allein was das Letztere betrifft, so vertheidigen sich die
Stiere muthig gegen die Hyänen, und. werden daher von
ihnen selten angegriffen.
Warmer Nordost-Wind und ein starker Regen, der uns
am 4. Juli Vormittags heimsuchte, machte den grössten
Theil des frisch gefallenen Schnees schmelzen. Am nächsten
Tage brachen wir etwas vor Mittag auf, jedoch um
uns nur etwa dreiviertel Stunden der höchsten Bergspitze
des Buahat zu nähern. Die Richtung unseres Wegs war
südsüdwestlich, und wir zogen anfangs fortwährend über
einen Wiesengrund, welcher viele schmale, von den schmelzenden
Schneemassen entstandene Wasserabflössungen enthielt
und hier und da nackten Lavafels hatte. Von Strauchwerk
war nichts zu sehen, und nur zuweilen erhob sich
eine. Gruppe der sonderbaren Gibarra, welche der Vegetation
dieser Gegend eigenthümlich ist, und durch ihre
Aehnlichkeit mit der Palme einen auffallenden Contrast
gegen die nahe Schneeregion bildet. Wir mochten etwa
sechshundert, Fuss emporgestiegen seyn, als wir uns auf
der Südseite eines sattelförmigen Gebirgsjoches lagerten,
welches die drei Höhen Selki, Buahat und Abba-Jaret
mit einander verbindet. Die erstere von diesen lag nördlich,
die zweite südwestlich und die dritte südöstlich von
uns; zwischen den beiden letzteren Kuppen aber, von
welchen ich den Abba-Jaret für die höchste halte, liegt
das sehr tief eingewühlte Thal M aschaha mit einem
gleichnamigen Strome, der nach Südosten dem Takazzö
zueilt. Zwischen diesem Flusse und dem Ataba fliesst,
angeblich in direct östlicher Richtung, der B em bea-
Strom, welcher die von der Ostseite des Abba-Jaret herabstürzenden
Gewässer in sich aufnimmt. Was wir von dem
Maschaha-Thale übersehen konnten, zeigte keine Spur
von Strauch Vegetation; in der Tiefe desselben aber erblickte
man einzelne terrassenförmige Vorsprünge, welche
schon zum Anbau von Gerste benutzt werden. Dreiviertel
Stunden südlich von unserm Lagerplatz lagen im Thale
die Ortschaften K atam a und D e b ill, auf welche weiter
südlich der Marktflecken A tg aba folgt.
Nachmittags stieg, wie gewöhnlich, ein dicker Nebel
auf, welchem Schneegestöber folgte. Das wenige aus weiter
Ferne zusammengebrachte Holz wollte wegen der Feuchtigkeit
gar nicht brennen, und erfüllte unser enges Lederzelt
mit einem beissenden Rauch, so dass wir endlich die