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Je weiter wir in der Entwickelung zurückgehen, um desto mehr ist das
Hirn dem Rückenmarke ähnlich. Sehr würde man aber irren, wenn man glaubte,
dafs das Hirn aus dem Rückenmarke hervor- und in die Schädelhöhle hinein
wachse. In der That hat man diese Ansicht verfochten, nachdem man erkannt;
hatte, dafs das Hirn als vorderes Ende des Rückenmarkes .betrachtet werden kann.
Wenn aber das Hirn das vordere Ende des Rückenmarkes ist, so könnte man mit
eben so viel Grund das Rückenmark ein hinteres Ende des Hirnes nennen und daraus
folgern, das Rückenmark müsse aus dem Hirne hervorwachsen. Ja diese,
Ansicht würde sogar noch etwas richtiger als die obige seyn, da in der That .das
Rückenmark langsamer eine verhältnifsmäfsige Grölse erreicht, als das Hirn.
Der richtigste Ausdruck für das gegenseitige Verhältnifs von Hirn und Rückenmark
ist aber, dafs sie beide Modifieationen eines Primitivorganes sind. Das
, zeigt die Entwickelung dentlich und eben deshalb haben wir den etwas schwerfällig
scheinenden Namen Medullarröhre aufnehmen müssen. Beide Hauptabschnitte
im Centraltheile des Nervensystems entstehen in den Räumen, die sie
später inne haben, aus einem gleichmäfsigen Ganzen, aus welchem eine morphologische
Sonderung erst allmählig die Verschiedenheiten entwickelt.
Die erste Eigenthümlichkeit, die in dem vordem Ende, der Medullarröhre
sich offenbart, ist ihre gröfsere Weite, die nächste ist die Neigung, in einzelne
Abschnitte sich zu sondern, welche jeder für sich eine Erweiterung erfahren und
zwischen denen daher Verengerungen bleiben. Solche Erweiterungen haben die
Beobachter Hirnbläschen (Pr e g i c u l a e cerebrales) genannt*). Diese Bläschen
werden nicht von der Nervenröhre allein gebildet, sondern auch von der
umgebenden Rückenröhre, die eben dadurch im vordem, Ende des Thiereszur
Schädelhöhle wird. Nachdem zuerst ein vorderes rundliches Bläschen von dem
viel längern hintern Raume sich abgegrenzt hatte, theilt sich fast gleich darauf
auch dieser, und man hat nun drei Bläschen, ein vorderes, ein mittleres und ein
hinteres, welches sich gegen das Rückenmark allmählig zuspitzt *'*)., Die vordere
Bla'se wird das grofse Hirn, die hintere das kleine Hirn mit dem verlängerten
Marke, und die mittlere die sogenannte Vierhügelmasse mit einem entsprechenden
Theile der Hirnschenkel. Das vordere Bläschen theilt sich aber bald in zwei
Abtheilungen, indem die vorderste und obere (wegen anfangender Krümmung des
Embryo freilich nach unten gerichtete) Wand sich rasch hervorstülpt. Sie stülpt
sich aber doppelt oder zu beiden Seiten neben der Mitte hervor, so dafs diese im
*) Auch wohl Hirnzellen ([C e llu la e c e r e b r a l e s .)
**) Theil I. S. 23.
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Verhältnifs zu den Seitentheilett eingesenkt bleibt. Die hintere Region der ersten
Hauptbläschens bleibt unpaarig und grenzt auch etwas von den vordem gedoppelten
ab. Auch sondert sich die hintere Hauptblase in zwei, eine vordere kürzere
und eine hintefe längere. Sp sind also fünf Bläschen aus den ursprünglichen
dreien entstanden *). Das vorderste ist durch die mittlere Eihsenkung gespalten.
Seine Höhlung enthält die beiden später sogenannten Seiten Ventrikel, und
seine Wandung die Hemisphären. Das zweite Bläschen umfafst den Raum, den
man später die dritte Hirnhöhle nennt. Es hat jetzt noch eine eben so vollkom-
mene Decke, als die andern Abtheilungen. Das dritte Bläschen umfafst den Vier-,
hugel **) und Seine Höhlung ist die zukünftige Wasserleitung, die bald die
Weite eines sehr ansehnlichen Hirnventrikels hat. Das vierte Bläschen wird das
kleine Hirn und das fünfte das verlängerte Mark. Aus diesen fünf morphologü-
sehen Elementen wird das Hirn gebildet, denn die vorübergehende Dreizahl der
primären Hirnbläschen scheint nur anzudeuten, dafs gewisse Abgrenzungen ein
Wenig später kenntlich werden.
Noch haben aber diese Bläschen wenig von den Eigehthümlichkeiten die
sie erhalten sollen, weswegen wir sie auch nicht nach den Theilen, die aus ihnen
werden, benennen können, ohne uns zu verwirren und zu falschen Vorstellungen
zu verleiten. So hat das zweite Bläschen noch keine Sehhügel in seinem Innern
durch welche es später besonders charalcterisirt wird. Wollte ich das dritte Bläschen
nach dem Vierhügel benennen, so müfsten Sie mich ebenfalls mifsverstehen,
da man unter diesem Namen nicht einen Theil der Hirnsehenkel mit begreift, der
aus dieser Zelle sich hervorbildet, Wir können auch den Ausdruck Bläschen
nicht für die ganze Entwickelung beibehalten, da einige sehr bald den Charakter
einer Blase ßinbiifsen, indem sie z. B. ihre Decke verlieren." Es scheint mir daher
am passendsten eine Bezeichnung zu wählen, Welche nicht nur für alle UmWandlungen
des Vogelhirnes apweUdbar ist, /Sondern auch die Vergleichung der verschiedenen
Hirnformen sehr erleichtern Urals. Ich nenne daher die fünf hier auE
gezählten Bläschen nach der Reihe von der ersten zur letzten: das 'Vpr'dßrhim
Zwüchenhirn, Mittelhirn, Hinterhirn, und Vfachhirn. Sie bilden fünf morphologische
Elemente des Hirnes, die im Anfänge der zweiten Periode der Entwicke-
luhg noch blofse Bläschen sind.' DieHöhluügenaller Bläschen communiciren mit
einander, und man kann daher mit Rechf Sagen,/dafs das Hirn in der ersten Pe
Theil I. S. SO. 64.
**) *** fQr die Darstellung des Hirnbaues, besonders aber der Entwickelungsgeschichte aller
Thierklassen besser, dieses Wort in der. einfachen Zahl zu gebrauchen-, nicht io der mehrfachen.
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