
II. K.\I>ITEI.. DAS WELTBILD DES MITTELALTEIiS. JERUSALEM DI MITTELPUNKT DER KARTE. 101
meisten Weltkarten, so ge.stellt. da-ss der O.sten sieh am oberen Rande
der Karte belindet. Anlïallend Ist es, da.ss nicht die Lang.sseite des
Ovals zur (~»stwest-Riclitung der Karte benutzt wurde, .sondern vielmehr
die Breitseite, hi Folge dessen sind alle drei Erdteile nach Norden und
Süden verzerrt, worden, wobei Asien auch liier wieder sehr merklich
in der Breite zusammengepresst ist. (Vgl. Atlas, Tafel III, No. B.)
Finden wir diese o\'ale oder eiförmige Gestalt der Weltkarte vereinzelt
auch in der Folgezeit, im XIV. und selbst XA'. Jaliiliundert,
noch vor. so war sie doch von der kreisrunden Karte last vollständig
verdrängt worden, deren symmetrisch abgeschlossene Form dem mittelalterhchen
Geschmack besonders zusagte. Hierbei hatten ehnnal religiöse
Rücksichten mitgewirkt; denn die Vorstellung einer kreisförmigen
Erdschcibe hatte ohne Zweifel auch dem Bibel-Erzähler vorgeschwebt,
und sie Wirde als solche von den Exegeten richtig erkannt. Sodann
übten auch die Radkarteu. wie sie sich zahllos in den kosmographischen
Kompendien der spätröinischen Schriftsteller linden, noch immer ihren
Einfluss aus; und schliesslich wuisstc man auch aus rationellen Gründen
die Kreisform der Oikumene zu erweisen, indem man sich die Erdkugel
in der Wasserkugel schwimmend dachte, und zwar derart, dass von
jener nur ein mässiges Stück üher dem Wasserspiegel hcr\'ortauchte,
welches natürlich kreisrund ausfallen musste.') Schon hieraus ersehen
wir, dass die Zeichner aller der zahlreichen runden Weltbilder nicht
notwendig Vertreter der Lehre von der Gestalt der Erdscheibe gewesen
sind, wie etwa die iomschen Geographen; sondern die runde Bildlläche
stellt nur den bekamiteu, vom Land bedeckten Teil der Erde dar, ist
also nur ein Stück der Kugelfläche (eine Kalotte). Freilich wurde auf ehie
mathematische Projektion dieses Kugelstückes auf die Fläche Verzieht
geleistet,") da ohnedies der gesamte topographische Inhalt der Karte
nur skizzenhaft gehalten wurde, und die PositioiL-.punkte, die in den
seltensten Fällen sich auf Schätziuigen ihrer gegenseitigen Stellung und
Entfernungen gründeten, einer mathematischen Unterlage nicht bedurften.
National-Bibliothek in Paris befindet. Curtambert (Bnll. ile la .Soc. d. Géogr. 1877) vermutete,
dass sie eine Kopie der We l tka r t e im Konunentar der .Apokalypse des Mönclies Beatus aus
dem Benediktinerkloster A'alcovado sei. — Eine gute Publikation von Cortamliert a. a. O.,
nach ihr die von Marinelli tmd die nnsrige aid'Tai", I I . No. 3. Sodann auch in Choix de Documents
géographi([Ues, conservé à la Bibl. nat., Paris 1883.
A'gl. das Nrdiere hierüber im 4. .Abschnitt dieses ICajiitels. — î ' b e r die Kreislbrm
der alten römischen und griechischen Karten im Allgemeinen vgl. besonders die inhaltsreiche
Abhandlung von A. E l t e r : De Forma urbis Romae deque Orbis autiqin l a d e ; Osterjtrogr.
der Bonner Univers. 1891, dissert. I I , S. XXIX.
Jedenfalls hat man auf keiner einzigen Kart e bisher eine Konstruktion entdecken
können.
Neben der runden Gestalt ist das zweite bemerkenswerte Charakteristikum
dieser Karten die c e n t r a l e Lage de r S t a d t J e r u s a l em.
Hatten schon die Juden sie als den Mittelpunkt der Welt betrachtet,
indem sie bei dem beschränkten geographischen Gesichtskreis alle
anderen Länder und Orte in ihrer relativen Lage zu ihrem eigenen
Lande Palästina und deren Hauptstadt bestinnnteii,') so folgte ihnen
hierin das chri.stliclie Mittelalter, weim auch wohl mehr aus Pietät und
Verehnmg jener heiligen Orte, wo sich die Leidensgeschichte Christi
abge.spielt hatte. Wir können von einer Aufzählung der vielen Karten
ahsehen, da die ältere Zeit fast durchgehends dieser Auffassung folgte;")
erst verhältnismässig spät, als das Weltbild bedeutend au Umfang
gewonnen hatte,, musste man dieselbe aufgeben oder doch jedenfalls
modifiziren. Heim die centrale Lage von Jerusalem hatte die nachteihge
Folge, dass alle Länder Asiens sieh auf O CT ' die eine Hälfte des
Kreises beschränken mussten, inid zwar auch dann noch, als bereits
neue umfassende Entdeckimgen im fernsten Osten schon gemacht worden
waren, während die andere Hälfte für Europa und Afrika verhältnismässig
zu gross ausfiel. Es war daher unausbleiblich, dass Jerusalem
mehr und mehr naeh Westen verrückt wurde. So behält P e t r u s de
Alliaco, der Kardinal von Cambray, nur noch bedinginigsweise die
Lage der Stadt »in der Mitte« bei und erklärt sich diese Ansdrucksweise
dahin, dass der Psalmist nur auf die centrale Lage innerhalb
der Klimate habe hinweisen wollen.") Ganz ähnlich sucht der Camaldo-
Diese AulTasstmg finden wir übrigens auch bei anderen Kulturvölkern des .\ltertunis.
So galt bei den Griechen lange Zeit Delphi als das Centrum der Welt. Nachdem sie einmal
ihrer Erdka r t e die Kreisform gegeben hatten, konnten sie bei weiterer Aus führung die Fr age
nicht mehr imigehen , welches Land oder welcher Or t die Mitte dieser Kreisfläche einnehmen
müsste. Man sah Delphi als den Mittelpunkt von Griechenland nnd somit der We l t an, als
den 0iMpa>.<3^ T^? yri^. Vgl. Ag a t h emi . 2 (Geogr. Gr. min. I I . 471): Oj usr o-ji/ -ct'/.nici TVI'
oi^icjusi-ri' £7J«(/)C|' j-Tjcyyj/.y:!', u'-TYr Ss ys'ir^cn 7n y.at Tfttirv]? As?.(/30U? TOf outprc?.ov
-ycij syjii' Trc Plat. Republ. I \ ' . 427: if iAo-m rr/^ yrfi Tcu öiMpc(}.av ««^rusro?. "Cgi. Paus
a n i a s ' x , 16, 2; .\eschyl. Sept. c. Theb. 730; Eumenid. 159; Pind. Pyth. IV, 6; VI , 3;
Strabo I X , 419; Ovid. Metam. X. 167. Einen Zweifel gegen diese Annahme erhebt zuerst
Epimenides (Pint, de oracul. defin. 409), wie denn dieselbe in de r späteren Zeit vollständig
aufgegeben wurde. — .Ähnlich sahen aber auch die Inde r , Tibe t e r , Chinesen luid Ägypter
ihre Länder als die Mitte der We l t an. Vgl. Santarem I, 400 f
2) Santarem I. 198. — A'gl. ausser Isidor Etym. XIV, 3, 21 {Hicrosolyma quasi umbilicus
reyionis terrae) und l l r aban. Maurus , de Univ. XI I , c. 4, noch Hugo von St. A'ictor:
De situ Te r r a rum I I , c. 2.
Petr. .All. de imagine mundi cap. 15: Viide patei falsitas cuiusdam vulgaris opinionis,
jjouentis BierusaUm in medio terrae, juxta illud psalmi, operatus est salutem in medio terre. Qui
a loquendo simpliciter non est in medio terre liabitabilis ut ostcndant ea qjtae dicta sunt: sed e.-it
cfiasi in medio climatum.
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