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GO I. KAPITEL. DAS WELTBILD DER ;ALTEN. URSPRUNG DER IDEE VON DER UMSCHIEEBAIIKEIT DER ERDE. 61
eine Stelle bei Agatlieinerns einigen Anfscliluss giebt, wonach Krntes
der Oikumene eine halbkreisförmige Gestalt gegeben haben soll.')
Wie die hlalbkreisform für die nördliche Oikumene hiermit ausdrücklich
bezeugt ist, so müssen wir sie auch für die südliche HÉilfte voraussetzen,
wofür jener meridionale Ocean-Arm einen sicheren Anhaltspunkt
bietet. Man hat das System des Ivrates nicht ohne Grund mit
jenem des Macrobius verglichen, welcher mittelbar oder unmittelbar
aus den Schriften des Krates diese Auffassung sich angeeignet haben
wird, — und hat aus ihm die weiteren Einzelheiten auf Krates
bezogen. Der Kommentator zum Somnium Scipionis Cicero's fasst
die Land- und Wasserverteilung auf der Erdoberfläche in den AVorten
zusammen, dass d e r E r d k ö r p e r n i c h t d u r c h e i n e n e i n z e l n e n ,
s o n d e r n e i n e n d o p p e l t e n Oc e a n g ü r t e l umf l u t e t we r d e (no7t
um, sed gemino (Oceani) ambihi terrae corpus omne circimflui). Der
Hauptarm des Oceans erfüllt die heisse Zone und folgt in seuier
Hauptrichtung dem Äquator. Von diesem Teile zweigen sieh im
Ostpmikte zwei meerbusenartige Arme ab, von denen der eine zum
Nordpol, der andere zum Südpol streicht, und ebenso gehen vom
Westpunkte zwei solcher meridionaler Busen ab, welche au den Polen
mit den vorhergenannten zusammentreffen. Hierdurch wird die Erdoberfläche
in vier halbkreisförmige Stücke zerlegt, von denen ein
jedes durch einen halben Meridian- und einen halben Äciuatorumfang
bestimmt wird; denn der sie doppelt umflutende Ocean — der meridionale
und äquatoriale — bildet gleichsam vier Inseln, welche Cicero
als maculae bezeichnet und von denen jede von einem eigenen
Menschengeschlecht bewohnt wird.") Die Encyklopädisten der Folgezeit
wurden nicht müde, dieses Schema der Erde in ihren Darstellungen
zu wiederholen'), und das christliche Mittelalter nahm es gleichfalls
wieder auf. — Nur so kaim auch der Globus des Krates beschafl'en
gewesen sein; denn die wenigen Andeutungen über denselben, finden
einzig in der Terra quadrifida des Macrobius ihre Erklärung.
Agathemer. geogr. inf. 1 , 2 : Ot usi' 01
. . . . Kjar/jç èe âjç ruiy^y^-ioi'.
-) Macrob. Somn. Scip. I I , 9: Capteruni verior eius alveus tenet zonam perustam. Et
iam ipse qui aequinoctialem, quam sinus ex eo nati, qui honzontem circulum amhitu suae ßexionis
imitantur, omnem terram quadrifidam dividunt, et singulas habitationes faeiunt insulas
singulae de quatuor hahitationihus parvae quaedam efficiuntur insujae, Oeea/io his eas amhiente. —
I I , 5: has terras partes, quae a quatuor homimtm yenerihus incoluntur, maculas habitationum
vocavit.
Cleomed. cycl. theor. I, 2; Ampelius, liber memorialis c. 6; Mareian, Capella VI, 603.
•Ausserdem noch bel Nonnus Dionys, I I , v. 2 4 8 ; Eumenius paneg. 4, Vgl, Be rge r , Erat. 9,
Hatte Ptolemaeus mit kritischem Takt für seine angeblich
gesicherten Kenntnisse von der Erde eine scharfe Grenze gezogen,
über die er sich kaum mit einigen Vermutungen hinauswagt, so wa r
Krates in das entgegengesetzte Extrem verfallen mid hatte, ungeduldig
über die langsam fortschreitende empirische Forschung, ein umfiissendes
Bild der ganzen Erde zu entwerfen versucht.
VI. Die ersten Hinweise auf die Umschiffbarkeit
der Erde.
[ie ofl'en ausgesprochene Behauptung, dass die Erdoberfläche
! mit geringer Beschränkung in fast allen Gegenden be-
Jwohnbar sei, die gewagten Versuche, sich auch von der
?Land- und Wasserverteilung auf den drei übrigen Erdvierteln
eine Vorstellung zu bilden, — Versuche, welche einerseits zu
der Annahme eines zusammenhängenden, die Erde umspannenden
Festlandes lühren mussten, anderseits auf die Vermutung mehrerer,
nach Lage und Ztihl noch nicht bestimmbarer, grösserer und
kleinerer Erdinseln hinausliefen, oder gar, wie in dem Weltbilde des
Krates von Mallos, auf ein symmetrisch abgezirkeltes System von
vier halbkreisförmigen Kontinenten — alle diese Spekulationen legten
von vornherein auch den Gedanken einer möglichen Umschiffbarkeit
der Erdkugel nahe. Konnten sieh gleich die Vertreter der methodischkritischen
Richtung zu einer bis ins Einzelne ausgeführten Weltkarte
nicht verstehen, und liessen sie sich auch nur selten zu einer
Hypothese über die Südhälfte der Erde herbei, da diese ihnen eine
völlige Terra incognita wa r , so standen sie doch nicht an, die Frage
nach der Besohaflenheit der Nordhälfte einer ernstlichen Prüfung zu
unterziehen, weil sich für diese einige Anhaltspunkte boten, die bei
kritischer Sichtung wenigstens die nötigen Vorfragen einer Lösung
entgegenführten.
Eine Behandlung dieses Gegenstandes wa r naturgemäss abhängig
von dem vielfach bearbeiteten Problem der Grösse der Erdkugel
und der Grösse der Oikumene auf derselben. Von entscheidender
Wichtigkeit wa r hier zunächst die Frage, wie gross die Entfernung
von der äussersten Westküste Europa's (Iberien) bis zur