
58 I. KAPITEL. DAS WELTBILD DER ALTEN. DER ERD-GLOBUS DES KRATES VON MALLOS. 59
Hatte so ilie Frage nach der Land- und AVasserverteilung in
nord-südhcher Richtung zu keinem allgemein angenommenen Resultat
geführt, so war dies noch weniger für dieselbe Frage in ost-westlicher
Richtung der Fall. Gegen die vermutliche Existenz von Nebenwohnern
(Periökeii) konnte aus physischen Gründen nicht gut Einspruch
erhoben werden, da die Annahme einer gemässigten Zone in
gleicher geographischer Breite und in gleicher klimatischer Beschaffenheit
rings um die ganze nördliche Halbkugel herum schon aus
rationellen Gründen wahrscheinlich gemacht werden konnte; doch liess
sich dies ebenso für die südliche Halbkugel thuii, wo allein die Landfrage
Schwierigkeiten bereitete. Die Untersuchungen dieses Gegenstandes
waren naturgemäss abhängig von den Anschauungen, welche
man von der Grösse der Oikumene in ost-westlicher Richtung hatte. Je
kleiner man die Länge derselben ansetzte, um so grösser dachte man
sich dementsprechend das ihre Ost- und Westküste bespülende Meer,
und um so mehr gab man der Möglichkeit Raum, dass vielleicht
noch ein anderer Kontinent sich dazwischen lagere. Dass Aristoteles
gerade dieser Ansicht n i c h t beipflichtet, ersehen wir aus einer
Bemerkung in seinem Buch »Vom Himmel«, wo er den Ocean
zwischen Spanien und Indien als unverhältnismässig schmal hinstellt,
hierdur-ch also zu erkennen giebt, dass eine einzige zusammenhängende
Oikumene die Erdoberfläche erfülle und soweit um die Erde herumreiche,
dass nur ein geringfügiger meridional verlaufender Oceanstreifen
das trennende Glied bilde.') Berger hebt hervor, dass
Aristoteles an keiner Stelle von einer Oikumene der Periöken und
Antipoden spricht, da die Verschiedenheit der Bewohnungsverhältnisse
in seinem Systeme nicht so scharf hervortritt, und daher zu den
Bewohnern unserer Oikumene nur die Bewohner der Antoikumene in
einen besonderen Gegensatz treten.')
Dieser, besonders Aristoteles eigentümlichen Auffassung steht
eine andere gegenüber, welche vornehmlich bei den Stoikern Platz
gegrifl'en hatte. Strabo deutet mehrmals in seiner Geographie die
Existenz noch anderer bewohnter Kontinente an. So sagt er im
zweiten Buch: »Eine genaue Beschreibung der ganzen Erdoberfläche
oder auch nur dieser unserer Zone gehört einer anderen Wissenschaft
an; ebenso auch die Frage, ob das Viereck auf dem e n t g e g e n -
gesetzten Vi e r t e l u n s e r e r Zone b ewo h n t wi r d . De n n we n n
') .•\i-istot. de coelo I I , 14. Vgl. hierzu Siniplicii comiiient. in R' libros Arisfotelis de
coelo ed. Ka r s t e n , S. 245. und Seneca prolegg. 13.
Berger. Eratosth. 8 9 ; Wi s s . Erdkde . I I . 147.
sich di e s a u c h so v e r h ä l t , so wi r d es doch n i c h t von denselben
b ewo h n t , die auf u n s e r em Er d t e i l e wo h n e n , s o n d e r n
man muss es a l s d a n n f ü r einen a n d e r e n Er d t e i l n e hme n ,
was n a t ü r l i c h ist«.') Nicht weniger deutlich ist eine andere Stelle,
wo es heisst: »Es können auch in derselben gemässigten Zone zwei
bewohnte Erdteile sein, oder auch mehrere, alle in nächster Nähe des
Kreises, der durch Thinae und das Atlantische Meer geht».") Wenn
irgend eine Stelle als ein deutlicher Hinweis auf Amerika hätte aufgefasst
werden können, so sind es doch sicherlich diese beiden; aber
seltsamerweise wird ihrer von den Kosmographen des Zeitalters der
grossen Entdeckungen nie Erwähnung gethan.
Die Äusserungen Strabo's deuten, wie ersichtlich, nur auf eine
gewisse Möglichkeit hin, und er scheint sich in seinen Vermutungen
wesentlich seinem Vorgänger Kr a t e s von Ma l los angeschlossen zu
haben. Der pergamenische Homerexeget hatte sich zu den kühnsten
Hypothesen verstiegen, welche die Hauptvertreter der wissenschaftlichen
Erdkunde stets sorgsamst vermieden hatten; denn wenn sie hin
und wieder auch die Oceanfrage berührten, so bewegten sie sich
doch meist m Ausdrücken der Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit.
Krates hingegen entwirft mit sicherer Hand, soweit wir aus den
fragmentarischen Andeutungen noch schliessen können, ein Bild der
gesamten Erdoberfläche; er steht auch nicht an, dasselbe graphisch
wiederzugeben, und zwar in einer Form, welche bei dem Mangel
einer brauchbaren Kartenkonstruktion — und vollends der ganzen
Kugelfläche auf eine Ebene — zur Veranschaulichung am meisten
geeigTiet ist, nämlich in der Form eines Globus . Wir haben bereits
oben gesehen, wie Krates das Vorhandensein eines äquatorialen Oceans
zu beweisen suchte. Die Deutung der Irrfahrten des Odysseus, vorzüglich
nach ihrer geographischen Seite hin. gab ihm Gelegenheit, auch
die drei übrigen Tetartemorien der Erdkugel zu besprechen. Aus einem
Zeugnis bei Strabo entnehmen wir, dass Krates den homerischen
Helden auf seiner Fahrt von der Unterwelt her auf einem busenartigen
Teil des Oceans, welcher sich vom Wendekreise des Steinbocks
gegen den Südpol hinzieht, zurückkehren lässt.®) Diese Angabe eines
ausgesprochen meridional verlaufenden Oceans, der mithin den vorhergenannten
äquatorialen rechtwinklig kreuzen muss, lässt auf ein
eigenartig durchgeführtes System schliessen, über welches ferner noch
') s t r a b o I I . 118.
-) Strabo 1, 65. Na ch ande r e r Lesart heisst es nicht Sia ©jrwi', sondern 81 'ABrifUjo.
s t r a b o I, 5.