
4 I. KAPITEL. D.\S WELTBILD DER ALTEN.
ist verkehrter, als eine Weltkarte naeli Homer entwerfen zu wollen.')
— Die homerische Erdkunde besitzt keine Einheitlichkeit, sie zeigt
verscliiedene geographische Gesichtskreise, die excentrisch zu einander
stehen, - mit einem Wort: sie i s t , wie die ganze Diclituiig überhaupt,
n i c h t das AVerk eines Einzelnen.-) Pliermit berühren wir
den schwierigsten Punkt in der kritischen Behandlung der Gedichte.
Die moderne Forschung ist zu dem Ergebnis gekommen, dass
beide Epen, Ilias und Odyssee, das Resultat einer lange dauernden,
kontinuii-hchen Entwickeluiig sind, die im VIH. Jahrhundert v. Ohr!
ihren Abschhiss fand.») Aus der Annahme, dass mehrere Dichter zu
verschiedenen Zeiten und an vei'schiedenen Orten mitgewirkt haben,
erklären sich die zahlreichen Widersprüche, Wiedei'hobingen und
Differenzen. Nicht zum Wenigsten tritt dies bei den geographischen
Anschauungen hervor. AViihrend sich die Ilias nur selten in nebelhafte
Fernen verliert und sich meist auf den engbegrenzten Raum der
das Ägäische Meer einschliessenden Länder beschränkt, sucht die
Odyssee, ihrem Stoff entsprechend, mit Vorliebe entlegene Gebiete
auf und lässt eine Erweiterung der Länderkunde erkennen. Besonders
in der Odyssee treten die versolüedenen geographischen Gesichtskreise
der einzelnen Dichter scharf hervor.
') A'ersiiche dieser .-irt sind von \ ' o s s , \ 'ü] cke r und Foi-biger gemacht worden.
') Eine Darstellung der homerischen Ei-dkunde vom St an d p u n k t der inodei'nen Fo r -
schung existirt zur Zeit noch nicht. Die älteren \Ve rke l.ieriiber liaben nnr nocl. als xMaterialsanuulungen
We r t . So u. a. J. H. \ - o s s , Die Gestalt der Erd e nach den BegrifVen der
Alten (Krit. Bl. I I , 127 ff.); derselbe übe r die We l t k u n d e der Alten (Krit. Bt I I , 245 it.);
U c k e r t , Beme rkungen übe r Home r s Geographie (We ima r 1815); V ü l c k e r . über homer!
Geograpliie und We l t k u n d e (Hannove r 1830); F o r b i g e r . Handb. der alten Geographie
(Leipzig 1842; I, 2 _ - 2 I ) ; B u c h b o l z . Home r . Realien I. 1: Homer . Kosmoprapliie und
Geographie (Leipzig 1871).
') De r schon ii-iiher angei-egte und spätei- dnrcli Fr i edr . Aug. "Wolf (I>i-o]egg. ad
Honiermn 1795) wissenschaftlich begründe t e Zweifel an der Persönlichkeit Home r ' s und d e r
Autorschaft der beiden Epen brachte die homerischen Fr agen in Fhi s s , wclche in dem nachfolgenden
jaiu-elangcn Streite zu einem richtigen \"erständnis der beiden Epen fflhite, al)er
noch nicbt zn einem allseitig befriedigenden Abschlnss gekommen ist. \-ern-iescn sei auf
Volkmann (Gesell, und Kritik der Wolf.clien Prol egomena , Leipzig 1874); Ponitz (Ur s p r u n g
der home r. Gedichte, Berlin 1881) und die griechischen Litteraturgeschichten von S i t t l ,
(München 1884; I, 45) und C l i r i s t (Nördlingen 1888, S. 20). — Wa's die Zeit anbetrifl't, so
mag die I l a u p t e n twi c k e hmg der beiden Epen in das IX. J a h r h u n d e r t fallen, wenn auch die
Ansätze aus we i t f rühe r e r Zeit stanunen. Anfkläi'ungen übe r die Zeit haben auch die
Schlicmann'scben Aiisgrabnngen gebr a cht , besonders j en e in Ti ryns und Mykena e. Die
mykenische Ku l t u r blühte in der zweiten Hälfte des II. J ahr t aus ends v. Chr. ' o i e Anf änge
der homerischen Dichtung gehören dieser mykenischen Blütezeit noch an, die For t s e t zung und
Überarbeitung iällt in die Zeit nach der dorischen Wa n d e r u n g . Vgl. hi e rüber S c h n c h l i a r d t ,
Schliemanns Ausgr abungen im Lichte der heutigen Wi s s ens cha f t , Leipzig 181)0.
GRUNDRISS DES HOMERISCHEX WELTBILDES. 3
Nur in den Anschauungen vom gesamten Erdbilde sind keine
erhebliche Verschiedenheiten zu bemerken. Die kreisrunde Gestalt,
welche man der Erde zuerteilte, entsprach durchaus der naiven
Naturauffassung und steht auf gleicher Stufe mit den Ansichten des
Bibelerzählers. Freilich ist an keiner einzigen Stelle der homerischen
Gedichte die Annahme der Kreisform ilirekt ausgesprochen, aber
man mnss sie aus dem Vorhandensein eines allumflutenden Oceans
und den übrigen demselben beigelegten Epitheta mit Notwendigkeit
schliessen.') Das Bild der homerischen Kreiskarte ist noch recht
inhaltsarm. Zu einer Erkenntnis grösserer zusammengehöriger Ländermassen
und daraufhin erfolgender Abscheidung nach AVeltteilen war
man noch nicht gelangt. Namen wie Europa und Asien suchen wir
vergebens, und Libyen ist nur ein schmaler Küstensaum westlich von
Ägypten.'-) Das Adriatische Meer ist ebenso wenig bekannt, wie im
Norden der Ister, und das Gleiche gilt von Italien und Sicilien.
Wenn auch Ägypten mit seinem wunderbaren Strom schon genannt
wird, so liegt es dem Dichter doch noch in so weiter Ferne, dass
kein Sterblicher, den Sti'irme dorthin i'iber das Meer verschlagen haben,
jemals auf Rückkehr hoffen darf. — Hingegen zeigen andere Stellen
der Gedichte wieder eine bessere Bekanntschaft mit Ägypten und
seiner Lage.»)
Noch bestimmter maclien sich die Gegensätze in dem geograpliischen
Wissen der einzelnen Dichter an anderen Stellen geltend.
So weiss der Dichter des ersten Buches der Odyssee, wie Wilamowitz
nachgewiesen hat, auffallend Bescheid im Westen Griechenlands;
sogar Temesa am Terinäischen Golf in Unter-Italien ist ihm bekannt.')
Er hat hier Kenntnisse, wie sie bei euiem Korinther des A^H. und
VIII. Jahrhunderts ganz begreiflich sind. Dagegen ist der Verfasser
der Telemachie vertrauter mit dem Osten; fremd suid ihm Ithaka und
') Dass der Okeanos ein Fiuss ist, folg! aus den Bezeichnungen wie ^öoc, ^occi,
fsE'Sr^K, Besondere Beachtung verdient das Beiwort «d-o^joo..- (II. X^"III. 399; Od. X X . 65)
"in sich zni'ückstrüinend'., woraus sein Kreislauf , wie anderseits die Form der so mnkreisten
Erde, sich notwendig ergiebt.
') Libyen Od. IV, 85.
») Od. 111, 319- -322. Gegenübe r dieser übertriebenen En t f e r n u ng des Landes vgl.
die Ei-zähhmg des Odysseus bei Eiunäus (Od. Xl \ ' . 252 ü'.). Auch das Imnderttliorige
Theben wird zweimal genannt (II. IX. 381; Od. IV, 126); vgl. NMe s e . Entwi cke lun g der
homer. Poesie, Berlin 1882, S. 50.
*) Dass Teme s a das von den Ansonen gegründe t e Temp s a ist, behaupte t schon Apollodor
(bei S l r a b o \ d . 255). Andere hielten es für Tamassos aid' C'ypern, wo Ei'zgruben waren.
U. v o n W i l a m o w i t z (Homer. Unt e r suchungen, Berlin 1884, S, 24 If.).