
6 I. KAPITEI,. DAS WELTBILD DEI! ALTEN.
die Verhältnisse auf dem Festlande. Jenes ist ilmi eine öde Felseninsel
im Westmeer. Der Weg von Ithaka nach Pylos ist ihm ebenso
unbekannt, wie überhaupt die ganze Topographie des Peloponnes.
Der Taygetos existirt bei ihm nicht, so dass Telemach von Pylos
nach Sparta wie im Flachlande reist, mit nur e inem Nachtquartier
in Pherae.
Wenn schon die inneren Teile der homerischen Weltkarte
fragmentarisch sind, so lassen uns die Andeutungen über die äusseren,
an den Okeanos grenzenden Länder nicht minder im Stich. Hatte
man sich einmal zu der Annahme eines aUumflutendcn Océans verstanden,')
so lag darin notwendig die Ansicht eingeschlossen, dass
sich das feste Land der Erdscheibe bis an den inneren Rand des
Okeanos ausdehnen müsse. Über den Südrand der Erde erfahren
wir wenig mehr, als eine gelegentliche Bemerkung der Ilias uns
giebt, welche dorthin den ^Vohnort der Pygmäen verlegt.^) Über
den Nordrand aber haben die Dicliter keine bestinunte Äusserung
gethan; hier können uns einzig die Erzählungen von den Irrfiilirten
des Odysseus einigen Aufschluss geben.^) Die zahllosen Deutungen,
welche diesen zu Teil geworden sind, haben zu keinem Ergebnis
geführt. Alle Versuche, den Dichter beim Worte zu nehmen und
einen fortlaufenden, in sich geschlossenen Reiseweg zu rekonstruiren,
mussten von vornherein fehlschlagen. Vielmehr zeigt sich gerade,'
wie wenig sich der Dichter an die geographische Wirkhchkeit hielt!
um wieviel mehr es ihm darum zu thun war, seiner Dichtung einen
phantastischen Hintergnmd zu geben. — Vergegenwärtigen wir uns
die einzelnen Stationen seiner Irrfahrt.
Nach einem vergeblichen Versuch, Kap ilalea zu umsegeln, wird
Odysseus weiter südwärts an die Küste der Lotophagen geworfen,
welche wü- an der Syrte suchen müssen;') nicht weit von hier, an
') Völckei- (a. il. 0 . 99) v e r s u c h t zu e rkl . ï r en, wi e diese Ansol i auung vom Oke anos l lus s
sich he r ausgebi lde t ha t . .-Vnninglicli ma g l e t z t e r e r sich n u r auf das Gr i e che rdand umgel)ende
Meer bezogen h a b e n ; e r s t s p ä t e r , bei e rwe i t e r t e r Ke n n t n i s d e r J l i t t e h n e e r k i i s t e n , wu r d e er
hinter diese verlegt.
•-} II. I I I , 5.
=) Die Ilias k e n n t von E u r o p a n u r die Ba l k a n h a l b i n s e l , die Ke n n t n i s des We s t e n s
ist ma n g e l h a f t u n d h ö r t im No r dwe s t e n ganz auf. II. X l l I , 5 , 6 , spr i cht von den in den
Donaugegenden ans ä s s igen Sl y s e r n , Abi e rn u n d mi l che s s enden I l i p p emo l g e n , als den n ö r d -
lichsten \ - ö l k e r n . Vgl. hi e r zu II. H a h n , die geogr aphi s chen Ke n n t n i s s e d e r älteren Ep i k e r ,
H e f t l . Ili.as (Pr o g r . Be u t h e n 1878, S. 19).
') Da s Lo t o p b a g e n l a n d wi r d schon von He r o d o t ( I \ ' , 177, 183) an die Sy r t e verle-'t.
F e r n er Scylac. Ca r . peripL HO; Me l a l , 7, 5; Hi n . V, 28. Die Insel Me n i n x heisst A ^ ^ o c f ^ r V
S t r a b o l , 25; X V I I , 8 3 4 ; Po l v b. I . 39.
DIE IRRFAHRTEN DES ODYSSEUS. I
derselben Küste, sind die Kyklopen zu Hause.') Hierauf kommt er zu
der schwimmenden Insel des Aiolos, von welcher ihn der Zephyr sieher
nach Ithaka gebracht hätte, aber ein Sturm vereitelte es.''') Plötzlich
wechselt der Schauplatz! Es folgen das Abenteuer bei den Laistrygonen
und die Erlebnisse auf Aiaia, der Insel der Kirke. Das
Land jener Menschenfresser wird an der Propontis liegend gedacht.
Die Erwähnung der Quelle Artakia leitet uns nach Kyzikos, und man
hat auch mit Recht auf die auffallende Übereinstimmung des bei
Homer beschriebenen Laistrygonenhafens mit jenem von Kyzikos hingewiesen.")
Dagegen passt die Bemerkung von den l a n g e n Ta g e n
ganz und gar nicht für diese geographische Breite. Die Kenntnis
solcher bei des Dichters beschränktem geographischem Horizont kann
in der That befremden. Dieser muss jedenfalls Kunde hierüber aus
nördlicheren Gegenden gehabt haben."') Dass er sie auf Kyzikos
übertrug, ist ein willkürliches Verfahren. — Die Insel Aiaia liegt
noch weiter nach Osten, »bei den "Wohnungen und Tanzplätzen der
Morgenröte und dem Platze, wo die Sonne aufgeht«, im Schwarzen
Meer.') Zwischen diesem und dem offenen Meer nhnmt der Dichter
einen Zusammenhang an; denn Odysseus fährt unmittelbar von Aiaia
quer über den Okeanosfluss zu den in Nacht und Nebel wohnenden
Kiinineriern,®) um von dort in das Totenreich hinabzusteigen.
Od. I X , 105. — Die wi lden Zi egen des Ky k l o p e n l a n d e s sind den Gr i e chen f ü r
Libyen cha r akt e r i s t i s ch. Vgl . Wi l a n i owi t z a. a. 0. 1G4.
Sie liegt also westlich von I thaka .
Den Name n de r La i s t r y g o n e n q u e l l e .Artakia soll (nach .^poll. Rb o d . 1, 9 5 7 ; Or p h .
Argonaut. 496) eine Quelle bei Kyz i kos g e f ü h r t haben. 'A^tuh'^ heisst bei He r o d o t {I\", 14;
VI, 33 11. a.) S t a d t u n d Insel g e g e n ü b e r Ky z i k o s .
' ) So ur t e i l t en schon S c a l i g e r ( J l ani l . As t ron . 1579; I I I , 169 f.) u n d T h i e r s c h (Üb e r
das Zeitalter u n d Va t e r l and des Home r , Ha l b e r s t a d t 1832, S. 46). — Er k ü n s t e l t ist die
E r k l ä r u n g von ^"ölcker (a. a. 0. 116), de r die l angen T a g e , also die l änge r e .Sichtbarkeit d e r
Sonne, auf die hohe La g e d e r La i s t r y g o n e n s t a d t Te l e p y l o s z u r ü c k f ü h r t , wi e nicht mi n d e r
die von K l a u s e n (Die Ab e n t e u e r des Od y s s e u s aus He s iod e r k l ä r t , Bo n n 1 8 3 4 , S. 16 IT.).
Die Un v e r e i n b a r k e i t dieser phvs i s chen Er s c h e i n u n g mi t d e r La g e an d e r Pr o p o n t i s h a t
mehrere F o r s c h e r ve r anl a s s t , den Ve r s mi t Ar t a k i a f ü r den Zus a t z eines Rh a p s o d e n zu
erklären, ^'gl. B e r g k (Gr i e chi s che Li t t e r a t u r g e s c h. I, 684). L a u e r (Sp u r e n e ine r Ke n n t n i s
vom nördl . E u r o p a im Home r ; In Home r . S t u d i e n , Berlin 1851, S. 2 9 3 — 324) we i s t die
Annahme einer Be k a n n t s c h a f t H o m e r s mi t den nördl i chen Gegenden z u r ü c k .
Od. XI I , 3, 4. — Die Röme r wol l t en Aiaia im Vo r g e b i r g e Circeji an d e r We s t k ü s t e
Italiens wi e d e r e r k e n n e n , we l che s f r ü h e r eine Insel gewe s en sein soll.
®) Die Kinime r i e r d e r Odys s e e (XI , 14) sind ohne Zwe i f e l mit den Kimme r i e r n d e r
Geschichte identisch, die seit dem \'1I1. J a h r h u n d e r t me h r f a c h Einf ä l l e in Kl e ina s i en ma cht en,
und de r en Name n sich noch lange im kiniinerischen Bo s p o r u s erhielt. Vgl . N i e s e a. a. O.
224 f. — Sie wo h n e n im Du n k e l im äus s e r s t en Os t en, weil ihr La n d noch we i t hint e r d e m
Aulgangspunkt d e r S o n n e , d e r in d e r Nä h e von Aiaia geda cht wi r d , liegt.
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