
68 I. KAPITEL. DAS WELTBILD DER ALTEN. KRATES' AUSLEGUNG DER MENELAUS-FAHRT ALS EINER ERDUMSEGELUNG. 69
sowohl wie Ptolemaeus ilie östlichsten von ihnen bestimmten Längengrade
nur als die Grenze des thatsächlich erforschten Landes auffassten,
und sieh nach ihrer einung daher das Land noch beträchtlich
weiter ausdehnen musste, ehe es din-ch den Ocean, welcher
Europa und Afrika im Westen bespült, abgeschlossen wird, so wird
sich dementsprechend auch das Verhältnis zwischen dem Land- und
Wasserwege verändern, indem jener vergrössert, dieser verkürzt wird.
Nachfolgende Tabelle fasst das Ergebnis kurz zusammen;
Umfang Länge der
Oikumene
Verhäl
der Lii
Ulis
.nge
des des Parallels a. d. Parallel zum ganzen
Äquators. von Rliodos. von Rliodos. Poralleikrcis.
Eratosthenes 252 000 200 000 77 800 i'iber I;
/3
Strabo 252 000 200 000 70 000 über •A
Posidonius 180 000 144 000 70 000 weiiii
als 1
Ptolemaeus 180 000 144 000 72 000 über 'A
Marinus 180 000 144 000 90 000 über h
Länge der
Oikumene
in Graden.
ca. 140
ca. 125
175
ISO
225
Soweit hatte man also schon mit mathematischen Berechnungen
vorgearbeitet, so dass die Vermutungen über die unserer Oikumene
abgekehrte Seite der nördlichen Halbkugel nicht völlig aus der Luft
gegTiffen waren. Wenden wir uns aber nunmehr den mannichiachen
Erörterungen zu, welche die Trage nach der Ausführbarkeit einer
westlichen Überfahrt von Iberien nach Indien über den Atlantischen
Ocean betrafen.
Der schon mehrftich von uns erwähnte pergamenische Homerexeget
Kr a t e s von Mallos scheint die Möglichkeit einer Umschiffung
auf dem von ihm postulirten äquatorialen Ocean-Arm nicht von der
Hand zu weisen, und er macht sogar den verzweifelten Versuch, eine
solche Annahme bereits dem Homer zuzuschreiben. Im vierten
Buch der Odj'ssee erzählt der Dichter die Irrlahrten des Menelaus,
welcher, von Bios zurückkehrend, weithin verschlagen wird, und unter
vielen Abenteuern auch zu den Aethiopen, Sidoniern und Erembern
kommt.') Der zur Zeit des Strabo lebende Grammatiker Aristonikus
hatte alle die verschiedenen Deutungen der Menelaus-Fahrt gesammelt,
und aus seiner Zusammenstellung ergab sich, dass ein Teil der
Exegeten den Helden auf seiner Fahrt aus dem Mittelmeer in das Rote
') Horn. Odyss. IV, 8 1—8 4 .
Meer geführt hatte, entweder über die Landenge, oder durch einen
der Nilkanäle, die beide Meere verbinden sollten; ein anderer Teil
aber, und unter ihnen auch Krates, sah in seinem geschilderten
Reisewege unmittelbar eine Andeutung einer vollständigen Umschiffung
(TTE^I'-AOU?). »Einige behaupten«, sagt Strabo,') »er sei nach
Aethiopien geschifft, indem er durch die Meerenge von Gades bis
nach Indien steuerte; womit sie dann die Zeit seiner Wande rung in
Ubereinstinniiung bringen, von der er im achten Jahre zurückkam.
Rlit Krates eine Umschiffung anzunehmen, ist nicht nötig; nicht als
ob eine solche unmöglich wäre, denn auch die Irrfahrt des Odysseus
ist nicht unmöglich, sondern weil sie mit den mathematischen Annahmen
und mit der Zeitdauer der Irrfahrt nicht übereinstimmt.« —
In dieser letzteren Bemerkung liegt also angedeutet, dass Krates die
von Homer genau bestimmte Reisezeit des Menelaus von sieben
Jahren sich für die in Frage kommende Umschifiimg herausgcrechnet
habe, und hieran haben moderne Forscher angeknüpft, indem sie
in seiner Erklärung eine vermutliche Anlehnung an die Eratosthenische
Erdmessung erkennen wollten. So wies Lübbert darauf hin, dass,
abgesehen von dem 35tägigen Aufenthalte des Menelaus auf Pharus,
sieben volle Jahre zur Umsegelung der Erde nötig gewesen wären,
wenn Krates in folgender Weise kalkulirte. Sieben Jahre zählen
im Ganzen 7 X 360 = 2 520 Tage. Da nun der Äquator-Um fang nach
Eratosthenes 252 000 Stadien beträgt, so müsste Menelaus täglich
ungefähr 100 Stadien gefahren sein, so dass er also im achten Jahre
erst wieder zurückkehren konnte. Ihm schlössen sich im Wesentlichen
Wachsmuth und Müllenhoff an.-) Ist jene geistreiche Erklärung
Lübbert's nicht ohne Bedenken anzunehmen, so müssen wir doch an
dt'r Ansicht festhalten, dass des Krates Deutung der IMenelaus-Fahrt
auf eine Erdumsegelung anspielte, wenn auch von anderer Seite, wie
z. B. von Gosselin und neuerdings von Berger, noch ebenso nachdrücklich
die gegenteilige Meinung verfochten wird, wonach der
»Periplus« des Menelaus von Gades nach Indien vielmehr als eine
Umschiffung des südlichen Randes der Oikumene, also um Libyen
herum, zu verstehen wäre.")
•) s t r a b o I, 38.
«) Lübbe r t , Rhein. Mus. XI , 4 3 6 ; Wa c h smu t h , De Gratete, S. 25; Müllenhoff,
Deutsche Al t e r tumskunde 1, 250.
Dass die Annahme einer Erdums ege lung trefflich zu der planier des Kr a t e s passt,
giebt übrigens auch Berger zu. Wi l l man gegen Lübbe r t ' s Rekons t rukt ion des mathematischen
Beweises Bedenken e rheben, so dürfte man auch Berger ' s Auslegung nicht unbedingt f ü r
überzeugend halten. (Wiss. Er d k d e . I I I , 117—120.)