
I. KAPITEL. DAS WELTBILD DER ALTEN. DIE ÛBERFAHRBARIOEIT DES OCEANS VON IBERIEN NACH INDIEN. 73
der Kugel ein. »Ihre Grösse erhält mau, Avenn man \'0n der
ganzen Grösse der Erde unsere Halbkugel abzieht, dann von dieser
die Hälfte, und noch davon das Viereck, in welchem Avir die bewohnte
Erde annehmen.« Die Oikumene aber, welche niantelförmig
darin eingeschlossen ist, macht nicht ganz die Hälfte des Vierecks aus,
welches A'on dem halben Polarkreis und dem halben Äquator, sowie
von zv^rei um einen halben Kreisbogen von einander entfernten
Meridianstücken gebildet wird.') Den gTÖssten Teil desselben erfüllt
aber das die Oikumene einschliessende Meer, »welches man wegen
seiner Grösse und we g e n Ma n g e l s an L a n d (!) n i c h t me h r bef
a h r e n k a n n « . Diese Äusserung steht aber in entschiedenem
AViderspruch mit der vorherigen, wo er dem Eratosthenes vorwirft,
dass dieser unbesonnen dem anderen, nördlichen Erdviertel jede
Landbedeckung abgesprochen habe, — man müsste gerade annehmen,
dass Strabo's vorherige Behauptung sich nur auf die Jleerestcile
dieses Erdviertels beziehen sollte.
Mit der allmählichen Verlängerung der Oikumene schien man
aber auch Avieder mehr der Annahme zuzuneigen, dass die Uuischiffbarkeit
der Erde nichts Unmögliches wäre. So hatte Posidonius,
Avelcher die Erdinsel bis fast auf die Hälfte des Rhodischen Parallels
vergrössert hatte, behauptet: we n n ma n v om AVesten mi t bes
t ä n d i g em OstAvinde f o r t s e g e l e , so k omme ma n n a c h Zü r ü c k -
l e g u n g v o n 70 00 0 S t a d i e n n a c h Indi en. ' ) Die zu allgemeiner
Annahme gelangte Kugelgestalt der Erde musste den Gedanken ehier
möglichen Überfahrt wieder und immer wieder wachrufen, so sehr
auch die Skeptiker die praktische Ausführbarkeit in Frage stellten.
iUan suchte der Annahme des Aristoteles zuzuneigen, Avelcher die
Oikumene so weit ausdehnte, dass sich deren Ost- und Westküste
eniander wieder näherten. »Wi e Aveit i s t es d e n n « , fragt
Seneca, »von den ä u s s e r s t e n Kü s t e n S p a n i e n s bi s n a c h
I n d i e n ? Ei n We g v o n s e h r we n i g e n T a g e n , w e n n v o l l e r
Strabo II, 113. Das zwischen dem Äquator und dem Poharkreis liegende Stück der
Erdkugel hat die Gestalt eines AVirtels (t-oi'SuAo?) ; ein durch die Pole gehender Meridian
teilt den Wi r t el in zwei Hälften, in deren einer die Oikumene liegt. Dieselbe lässt abei- im
Süden bis zum Äquator, sowie im We s t en imd Osten noch ein beträchdiches Stück für den
Oeean frei. — Der A'ergleich mit einer Chlamys (weil die östlichen und besonders die westlichen
Enden der Erdinsel sehr schmal zusammengezogen sind) kehrt bei Strabo mehrmals
wieder; I I , 113, 116, 118, 121; XI , 519.
") Strabo I I , 102: 'Y-ci'OeT to t^c oiKooasKT;? uy.HQQ Itt-« tto'j uvaiä^Mi' ^Tahmv
VKaa^ov, Yjij.i7!j sti'nt -ov cXov
Wind di e Sege l s c hwe l l t . « ' ) Der Vergleich der weiten, unennesslichen
Räume des Weltalls mit den winzigen Verhältnissen auf der
Erde hat diese Worte veranlasst. Die vielfache Überschätzung der
Schwierigkeiten, die mit einer Überfahrt über den unbekannten Ocean
verknüpft waren, will Seneca nicht ohne Absicht in das Gegenteil
verkehren; und er ist vorsichtig genug, statt bestimmter ZahlengTÖssen,
nur im Allgemeinen auf den wenige Tagefahrten grossen
Weg hinzuweisen. Das Streben, das Weltbild in seinem weitesten
Umfange zu umfassen und zu begreifen, hatte einen Krates zu dem
kühnen Konstruktionsversuche eines Erd-Globus geführt, einem Schritt,
den die besonnene Kritik niemals zu thun wagte. Aber die
Äusserung des Seneca lässt durchscheinen, dass alle jene höchsten
Probleme, welche die Geographie der Erdkugel notwendig zur Folge
hatte, die Geister stets rege hielten und den Glauben an die dereinstige
Ausführbarkeit der westlichen Überfahrt nach Indien niemals
schwinden Hessen. So legte denn Seneca auch dem Chor in seiner
Medea") die prophetischen Worte in den Mund, die späterhin
Christoph Columbus und sein Zeitalter zur kühnen That begeisterten:
Kommen we r d e n si)äter e Ze i t en,
W o tier Oc e a n s i c h öf fne t ,
W o d e r E r d k r e i s we i t s i ch a u f t h u t .
Und d a s Me e r zeigt n e u e We l t e n .
N i c h t d e r L ä n d e r letztes ist T h ü l e .
Seneca, Qtuiestiones natural. Praef. § 11: Tunc contemnit domkiUi prioris angusüas.
Quantum enhn est, quad ah ultimis Uttorihis Hispaniae usque ad Jndos iacet7 Paucissimorum
dierum sjmtium, si navem suus ventus implevit. — A'gl. den Kommentar in der Ausgabe von
Koeler. Göttingen 1819, S. 266.
-) Senec. Aledea. am Scliluss des II. Aktes.
r. Entdpekunç .\meril(a's.
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